Erste Flüchtlinge sind in Polen, Rumänien, Ungarn, Slowakei und Moldau eingetroffen. Auch die österreichische Regierung zeigt sich bereit, Ukrainer aufzunehmen. Laut dem Roten Kreuz sei großer Hilfsbedarf zu erwarten.
Die Bilder von Autoschlangen, die nur eine Richtung ansteuern - stadtauswärts - waren an diesem traurigen Donnerstagmorgen zu sehen. Es ist anzunehmen, dass es die Bewohner der ukrainischen Hauptstadt in den Westen des Landes zieht, wo man sich in der Nähe der in Polen stationierten NATO-Truppen in Sicherheit wähnen dürfte. Viel wahrscheinlicher ist jedoch die Annahme, dass die Ukrainer den Weg in die "sichere" EU suchen würden.
In der Europäischen Union wächst die Sorge vor einer Flüchtlingswelle, die diejenige von 2015 weit übertreffen könnte. Die Schätzungen ihres Ausmaßes gehen allerdings noch weit auseinander. Zuletzt nannte der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas eine Spannbreite von 20.000 bis zu über einer Million Flüchtlinge.
Ähnliche Erwartungen haben auch die Polen, die sich mit der Ukraine eine 500 Kilometer lange Grenze teilen. "Wir müssen uns auf eine Welle von bis zu einer Million Menschen einstellen", vermutet Polens stellvertretender Innenminister Maciej Wąsik. Pessimistischer erscheint die Prognose der US-amerikanischen Geheimdienste, die bis zu fünf Millionen Schutzsuchende aus der Krisenregion erwarten.
Mehrere europäische Länder haben am Donnerstag ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen, aber auch von Verletzten aus der Ukraine gezeigt. In Rumänien, Ungarn, der Slowakei, Moldau und Polen sind die ersten flüchtenden Menschen bereits über die Grenze gekommen.
Wie sieht es diesbezüglich in Österreich aus?
"Geschlossene Grenzen werden nicht aufhalten"
"Was wir erwarten, sind Flüchtlingsströme aus dem Osten Ukraine Richtung Westen. Wir können bestätigen, dass in Polen jetzt schon die ersten Leute eingetroffen sind", sagt im KURIER-Gespräch Eduard Trampusch, Leiter des internationalen Programmes beim Österreichischen Roten Kreuz. Eine Einschätzung darüber, welchen Ausmaß die Flüchtlingswelle annehmen wird, könne er noch nicht wagen. "Das hängt von der Lageentwicklung in den kommenden Tagen zusammen. Wenn es mit den Raketenangriffen so weitergeht, dann, denke ich mir, wird der Flüchtlingsstrom größer sein".
Man müsse bedenken, dass viele wehrfähige Männer das Land nicht verlassen dürfen. "An und für sich sind auch die Grenzen geschlossen, aber ich glaube nicht, dass das die Menschen aufhalten wird", erklärt Trampusch, für den die Entwicklung in den letzten Tagen auch überraschend war. "Noch gestern haben wir von Leuten vor Ort gehört, dass das Ganze nicht so schlimm werde. Heute in der Früh berichtete mir eine Kollegin aus der Stadt Iwano-Frankiwsk, dort sei nach Raketenangriffen Panik ausgebrochen. Leute würden in Supermärkten Hamstereinkäufe tätigen, es gäbe Kolonnen vor den Tankstellen, Leute würden versuchen, Bargeld abzuheben", sagt Trampusch und gibt zu: "Das Ganze hat schon Ausmaße, die wir nicht erwartet hätten".
Das Rote Kreuz weitet jedenfalls nach der Eskalation des Konflikts in der Ukraine seine Aktivitäten aus und bereitet sich intensiv auf einen größeren Hilfseinsatz im Land und in den angrenzenden Nachbarländern vor. Alleine in den bereits abgeriegelten Gebieten von Lugansk und Donezk in der Ost-Ukraine leben rund 3,6 Millionen Menschen, die im Falle einer Flucht nur gen Osten können. "Zehntausende mussten ihr Zuhause bereits verlassen und es werden laufend mehr. Eine Million Menschen hat nach der Zerstörung von zwei Pumpstationen in Donezk keine Wasserversorgung mehr", sagt Rotkreuz-Generalsekretär Michael Opriesnig. "Wir müssen derzeit von größeren Fluchtbewegungen ausgehen und erwarten einen großen Hilfsbedarf."
Die Lage sei derzeit unklar. Wenn möglich, sollen die vom Österreichischen Roten Kreuz und von der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) unterstützten Hilfsprojekte zur Versorgung älterer Menschen entlang der Kontaktlinie in der Ostukraine weitergehen, bestätigt er: "Wenn es nicht gelingt, dort die tägliche Grundversorgung aufrechtzuerhalten, sind schwerwiegende humanitäre Konsequenzen zu erwarten."
"Seit beinahe acht Jahren schwelt dieser Konflikt"
Unabhängig von den aktuellen Entwicklungen würden bereits jetzt hunderttausende Menschen in der Ost-Ukraine darum kämpfen, gesund durch den Winter zu kommen. "Entlang der Kontaktlinie schlummern Minen und Blindgänger im Boden. Immer wieder fällt der Strom aus und die Versorgung mit Lebensmitteln ist schlecht. Seit beinahe acht Jahren schwelt dieser Konflikt, der tausende Menschenleben gefordert hat". Wasser sei ein großes Thema, ergänzt Eduard Trampusch. "In Donbas wurden am Mittwoch Wassereinrichtungen, konkret Pumpstation, zerstört. Dort sind 1,5 Millionen derzeit ohne Wasser". Auch hier wolle das Rote Kreuz jemanden entsenden, um Planungen zur Wiederherstellung der Einrichtungen herzustellen.
Beim Roten Kreuz seien noch 800 vermisste Personen registriert. "Die Kälte, die Corona-Pandemie und die ständige Unsicherheit, wie es weitergeht, machen den Alltag für die Menschen zur Qual", stellt Opriesnig fest.
Die Bereitschaft ist da
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) signalisierte bereits am Mittwochabend Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen. "Bei der Ukraine verhält es sich anders als bei Ländern wie Afghanistan. Da reden wir von Nachbarschaftshilfe", sagte Nehammer in der ZiB2. "Wenn ein Nachbarstaat (...) bedroht wird, dann gilt es solidarisch zu helfen. Das hat Österreich immer getan", verwies er etwa auf die Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren.
In dieselbe Kerbe schlug am Donnerstag der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP). "Falls notwendig, werden alle Bundesländer ukrainische Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Zudem muss auch die Energieversorgung für die Bevölkerung weiterhin garantiert werden", so der aktuelle Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz in einem auf Social Media veröffentlichten Statement.
Europa ist gerüstet
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht Europa für eine mögliche Fluchtbewegung aus der Ukraine gerüstet. "Wir hoffen, dass es so wenig Flüchtlinge wie möglich geben wird, aber wir sind voll und ganz auf sie vorbereitet und sie sind willkommen", sagte die deutsche Politikerin am Donnerstag in Brüssel.
Es gebe für die EU-Staaten an den Außengrenzen Notfallpläne, um Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen. Auch sogenannten Binnenflüchtlingen innerhalb der Ukraine werde geholfen. Zudem solle die Finanzhilfe für das Land ausgeweitet werden.
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