Es war surreal. Weit oben, über den Dächern der Stadt, waren Schüsse zu hören. Das seien Freudenschüsse, die Leute würden das muslimische Opferfest feiern, versicherte mir der Vater. Trotz meiner elf Jahre spürte ich, dass an diesem Samstag, dem 4. April 1992, Sarajevo nicht dieser lebendigen, lauten und bunten Stadt ähnelte, die ich kannte. Die Straßen waren wie leer gefegt, die meisten Geschäfte zu, die Stimmung komisch, ja bedrückt.
Der Ausflug nach Sarajevo, von dem ich mir meine ersten Basketballschuhe erhoffte, endete in einer Flucht. Der Vater erhöhte unter den immer öfter einsetzenden Schüssen, die von den olympischen Bergen herkamen, sein Schritttempo. Wir erwischten am Bahnhof den allerersten Zug – und das war gut so. Es sollte für eine Weile der allerletzte sein, der Sarajevo verließ.
Denn der Tag darauf war Tag 1 einer der längsten Belagerungen im 20. Jahrhundert, die 1.425 Tage andauern sollte. Während im Norden des Landes die serbischen Paramilitärs bereits ihr Unheil anrichteten, war der Krieg nun auch im Herzen Bosnien-Herzegowinas angekommen. Für uns alle begann eine neue Zeitrechnung.
Nichts war mehr so wie früher. Beim Bäcker gab es nur noch rationierte Portionen. Für ein Brot, das einer vierköpfigen Familie zustand, musste man sich mehrere Stunden lang anstellen. Die Regale in den Geschäften wurden immer leerer, die Schlangen davor dennoch immer länger. Das Essen wurde knapp. Die Eltern verfolgten gebannt die Nachrichten, die zunehmend von Panzern, Soldaten, brennenden Häusern und traurigen Menschen dominiert wurden. Um diese Bilder zu sehen, musste man bald nicht mehr das TV-Gerät aufdrehen. Man musste nur auf die Straße gehen – wenn dies ging. Immer öfter heulte die Sirene, der Keller war der neue Treffpunkt mit den Freunden.
Diese verschwanden jedoch zunehmend, die meisten ohne Verabschiedung. Die meisten ahnten nicht, dass sie nicht mehr heimkehren würden. Auch ich tat es nicht. Eines Tages saß auch ich mit meiner vier Jahre älteren Schwester in dem maßlos überfüllten Bus nach Rijeka. Meine Eltern meinten, wir sollen „bis sich die Lage beruhigt hat“ zum Onkel nach Kroatien. Grinsend – ich freute mich aufs Meer – winkte ich Mama und Papa zu, die mit Tränen in den Augen ihre Kinder davonziehen sahen. Wer konnte schon wissen, dass ich erst in sechs Jahren heimkehren würde?
Falsche Sicherheit
Ungläubigkeit. Das ist der gemeinsame Nenner bei allen, vor denen das Kriegsgespenst herumgeistert. „Das kann bei uns nie passieren“, hörte ich die Älteren ständig sagen, während sie in den Nachrichten Berichte über Gräueltaten in Palästina, dem Irak oder Afghanistan verfolgten. So wie nun in der Ukraine glaubten auch wir in Jugoslawien, dass uns das Unheil schon umgehen wird. Wir sind doch mitten in Europa. Der Westen oder zumindest unsere Nachbarländer Österreich und Italien werden es nicht zulassen. Nachbarn passen schon auf einander auf. Oder doch nicht?
Einem Menschen, dessen Drehbuch des Lebens von einem Krieg geschrieben wird, fällt die Orientierung in der Zeit leicht: Er erinnert sich an das Leben vor und nach dem Krieg. Das Dazwischen ist ein Vakuum, das man am liebsten verdrängen würde. Wenn es sein Leben nicht dermaßen bestimmt hätte.
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