Verhaltensforscher: Tiere haben die Moral erfunden

Alle Tiere, die in sozialen Gruppen leben und voneinander abhängig sind, brauchen Solidarität und Kooperation. Sie haben auch Moral.
Jede Gesellschaft – will sie funktionieren – braucht Moral, sagt der Verhaltensforscher Frans de Waal.

Ein Ruck ging durch die "moral community", als kanadische Psychologen 2006 entdeckten, dass Mäuse zu empathischem Verhalten fähig sind: Sie litten mit, wenn sie Artgenossen beobachteten, die Schmerzen hatten. Noch beeindruckender: Die Studie, in der Ratten auf die sehr begehrte Schokolade verzichten, um einen Artgenossen aus einer Falle zu befreien. Wenn Frans de Waal über seine Arbeit erzählt, ist Staunen angesagt.

Verhaltensforscher: Tiere haben die Moral erfunden
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Seit 30 Jahren schreibt der Wissenschaftler Bücher über tierisches Verhalten, das uns auch die Augen über unser Tun öffnet – egal, ob in Politik, Kultur oder der Familie. In seinem zehnten Buch ("Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote. Moral ist älter als Religion") sagt er: "Nicht Gott hat uns die Moral beigebracht; es war viel eher andersherum. Gott wurde in Position gebracht, um uns dazu zu bringen, unser Leben so zu leben, wie es sich gehört." Und das, was sich gehört, habe im Laufe der Evolution eine lange Geschichte. "Unser Gehirn wurde so designt, dass die Grenzen zwischen uns und den anderen verschwimmen."

Im Interview mit dem KURIER erklärt der berühmte Verhaltensforscher, dass die menschliche Moral ihre Wurzeln im tierischen Verhalten hat, und jede funktionierende, harmonische Gesellschaft Moral braucht.

KURIER: Was hat ein Atheist und Biologe wie Sie mit Moral und Religion am Hut?
Frans de Waal:
In den USA antwortet mehr als die Hälfte der Menschen, wenn man sie fragt, woher Moral kommt: Sie kommt von Gott. Sie denken, Moral hat nichts mit Biologie zu tun, es ist einfach etwas, das man von oben bekommt. Vielleicht denken das viele Europäer auch. Als Atheist habe ich es immer irritierend gefunden. Es impliziert nämlich, dass nicht an Gott zu glauben ein Freibrief ist, sich so schlecht zu benehmen, wie man will. Ich glaube aber, dass viele Menschen, die nicht religiös sind, sehr moralisch sind. Fest steht, dass das Zusammenspiel von Moral, Biologie und Religion interessant ist. Im Buch erkläre ich, dass die Evolution die menschliche Moral produziert. Daher ist die Moral auch viel älter als unsere Religionen.

Wie erklären Sie dann, dass viele Menschen gut ohne Moral auskommen?
Ob sie dabei ein gutes Leben leben, ist aber die Frage. Vielleicht sind sie reich und erfolgreich. Sie sind aber auch Psychopathen und verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Aber die Mehrheit der Menschen ist nicht so. Wären alle Psychopathen, würde die Gesellschaft zerfallen. Ja, es gibt einige Leute ohne Moral, die in diesem System erfolgreich sind. Die Zahl der Psychopathen liegt bei ein bis zwei Prozent.

Würden Sie sagen, dass zum Beispiel die IS-Kämpfer in die Kategorie Psychopathen fallen?
Sie präsentieren sich als sehr religiös, aber ich bin nicht so sicher, ob tatsächlich die Religion der Motor ihres Handelns ist. Vielleicht verfolgen sie eher politische Ziele als religiöse. Wie auch immer: Wenn man ein gutes Leben haben will – weniger ein erfolgreiches, dafür aber ein anständiges – braucht es Moral und ein Verständnis dafür, was unser Handeln für andere bedeutet. Denn wenn wir für andere sorgen, sorgen diese automatisch auch für uns.

Wer hat die Moral Ihrer Meinung nach erfunden?
Hin und wieder hat man ja den Eindruck, Kant und die Renaissance-Philosophen hätten die Moral in die Welt gebracht. Dabei geht sie auf die Kooperation zwischen Wesen zurück, die nur miteinander überleben können. Und auf Fairness und soziale Regeln, die wir mit anderen Primaten teilen. Alle Tiere, die in sozialen Gruppen leben und voneinander abhängig sind, brauchen Solidarität und Kooperation. Sie haben auch Moral.
Die Neandertaler etwa kümmerten sich um ihre schwachen Artgenossen, genau wie die frühen Menschen. Das sind Beweise dafür, dass unsere Vorfahren auch für jene sorgten, die nichts zum Wohl der Gemeinschaft beisteuern konnten, sondern eher eine Belastung waren. Paläontologen sehen im Überleben dieser schwachen, körperlich Behinderten oder geistig Zurückgebliebenen einen Meilenstein in der Evolution des Mitgefühls. Moralität dürfte also zumindest einhundert Jahrtausende älter sein als unsere gegenwärtigen Zivilisationen und Religionen.

Der niederländische Verhaltensforscher ist Direktor eines US-Primatenforschungszentrums. Berühmt wurde er durch seine populärwissenschaftlichen Bücher über das Verhalten von Primaten – etwa "Der Affe in uns". Heute erscheint sein neues Buch: "Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote", Klett-Cotta, 24,95 €.

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