Vergessene Kultur: Auf Entdeckungsreise durch Bergamo und Brescia
Niemand erwartet in einer 200.000-Einwohner-Stadt eine U-Bahn. Und, weil wir schon bei Überraschungen sind: Die U-Bahn in Brescia hat keinen Fahrer. Überrascht wird man auch, wenn man durch Brescias geschlängelte Gassen schlendert und eine Piazza nach der anderen entdeckt. Etwa, wenn sich in einer Lücke zwischen Hausmauern plötzlich der archäologische Park Brixia mit den beeindruckenden Überresten des Kapitolinischen Tempels auftut. Bei Sonnenuntergang wird die Ruine in fantastisches Licht getaucht.
Brescias Juwel
Auf ein archäologisches Highlight ist Brescia besonders stolz. Der dritte und letzte Raum ("Aula") des Capitoliums enthält die "Winged Victory", eine bronzene Statue aus dem 1. Jahrhundert, die schon 1826 bei Ausgrabungen entdeckt wurde. Die Jahre der Pandemie wurden genutzt, um sie zu restaurieren und an ihren angestammten Platz zurückzubringen.
In dieser – nur auf den ersten Blick unscheinbaren – Stadt fügen sich moderne Infrastruktur und eine Fülle an Bauwerken aus der Antike, dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock mühelos ins Stadtbild ein. Einige davon sind Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Nahe der Tempelruine liegt zum Beispiel das Museum Santa Giulia – ebenfalls Weltkulturerbe: Der ehemalige Klosterkomplex mit seinen zahlreichen historischen Fundstücken ist eine beeindruckende Schatzkammer. Ein enger, geheimnisvoller Stiegenaufgang führt in die obere Halle der Kirche Santa Maria in Solario, deren Sternenhimmel-Kuppel die Besucher staunen lässt.
Kultur trifft Natur
Brescia ist für die meisten nicht erste Wahl, wenn sie an Kultur in Italien denken, die Initiative "Kulturhauptstadt des Jahres" soll das ändern. Ähnlich ist es mit der umliegenden Natur, die gegenüber dem nahen Gardasee ein Schattendasein führt, aber sehenswert und perfekt für eine Kultur-Auszeit ist. Der eher unbekannte Iseosee liegt genau zwischen Brescia und ihrer Schwester-Kulturhauptstadt Bergamo. Und sogar hier hat Kunst Spuren hinterlassen. Der Verhüllungskünstler Christo weckte mit seiner "Floating Piers"-Installation 2016 das verschlafene See-Dörfchen Sulzano auf. Zum Glück nur temporär: Bei einer Bootsfahrt hinaus zum pittoresken Monte Isola, dem Berg, der sich auf einer Insel mitten am Iseosee in die Höhe streckt, wird klar, dass Massentourismus hier ein Fremdwort ist. Die Menschen, die seit Generationen ihr Geld mit der Fischerei und der Herstellung von Fischernetzen verdienen, achten gut auf ihren Lebensort. Mit dem Sonnenuntergang, der die Berglandschaft in eine wunderschöne Röte packt, tuckert das Boot zurück an Land.
Aufbruch statt Abbruch
Zurück an Land, zurück zur Kultur: "Brescia hat endlich verstanden, dass es reiche Geschichte hat", erzählt die Vize-Bürgermeisterin Laura Castelletti. Dass dafür viel Geld lockergemacht wurde, betont sie besonders gerne, ohne Summen zu nennen. Mehr Tourismus sei nur ein Ziel – die Bresciani selbst sollen genauso den "Sinn für Kultur" entdecken. Denn das Kulturerbe wird sowohl in Brescia als auch in Bergamo von der eigenen Bevölkerung übersehen. Beide Städte verdanken der Industrie ihren Wohlstand, der aber kaum für die Instandhaltung historischer Gebäude verwendet wird.
Das zeigt sich etwa in der Oberstadt Bergamos hinter einer breiten Tür. Alessandro Rigoletti ist Teil des hier beheimateten Theaterkollektivs. Er führt durch einen Gang ins Innere des "Teatro Tascabile". Seine Vorfreude auf das Kulturhauptstadt-Jahr ist groß. Das sympathische Chaos in dieser versteckten Ruine mitten in der Città Alta soll als Ort für Aufführungen dienen. Und so dazu beitragen, dass der Fokus auch über 2023 hinaus auf Kultur liegt.
In Brescia
In der Trattoria "Porteri" führen Francesca und ihr Bruder den Familienbetrieb in fünfter Generation weiter. Das heimelige Lokal tischt hausgemachte Spezialitäten, darunter Polenta und Risotto, auf. 100 Plätze verteilen sich auf drei Ebenen (inklusive Gewölbekeller), sodass eine intime, familiäre Atmosphäre entsteht. Die Warteschlange vor dem Lokal spricht Bände - unbedingt reservieren.
In Bergamo
Im typisch ostlombardischen Restaurant "Ol Giopì e la Margì" im Stadtviertel Borgo Palazzo wird die Käseverkostung in bergamaskischer Tracht von einem Familienmitglied angerichtet. Die "Scarpinocc de Parr", ein mit Käse gefülltes Nudelgericht, ist sehr zu empfehlen.
Ausblick
Im "Baretto di San Vigilio" kann man nicht nur das Essen, sondern auch den Ausblick genießen. Bergamo teilt sich nicht nur in Unter- und Oberstadt auf, sondern es gibt sogar einen "3. Stock", wenn man so will. Den Panoramablick von San Vigilio auf den Gipfel der Oberstadt sollte man sich nicht entgehen lassen.
Klimafreundliche Anreise
Brescia und Bergamo liegen nicht nur nahe zueinander, sondern auch nahe an Österreich. Mit dem Nachtzug geht es täglich ab Wien in etwas mehr als elf Stunden direkt nach Brescia; oebb.at, Sparschiene ab 29 Euro. Bergamo und der Iseosee sind von Brescia mit regelmäßigen Zugverbindungen in unter einer Stunde leicht zu erreichen. Die beiden Städte sind auch durch einen 76 Kilometer langen Radweg und einen 140 Kilometer langen Wanderweg verbunden.
Kulturhauptstädte 2023
Seit 2014 wird jedes Jahr eine "Italienische Kulturhauptstadt" gekürt und erhält eine Million Euro. Zuletzt wurde Procida, eine Insel vor Neapel, ausgewählt. Mit Bergamo und Brescia teilen sich 2023 erstmals zwei Städte den Titel, um die beiden schwer von der ersten Covid-19-Welle getroffenen Städte zu unterstützen.
Auskunft
Mehr Infos zu den "Kulturhauptstädten" und allen Veranstaltungen auf bergamobrescia2023.it
Kommentare