Der Weg als Ziel: Mit dem Zug von Linz bis nach Marokko
Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Schließlich ist Samira alleinerziehend. Die 28-Jährige ist Mutter einer achtjährigen Tochter. Geschieden. Ein schwieriges Unterfangen in Marokko. Aber Samira hatte Glück im Unglück: Ihr Onkel ist Anwalt. Heute teilt sie mit ihrer Tochter eine kleine Wohnung in der Medina von Marrakesch.
Sie besteht darauf, die fremde Frau aus Österreich zu bekochen: Hühnchen mit Couscous. Tee mit Minze. Samira wäre nie Teil dieser Geschichte gewesen, wäre die Reise nach Marokko mit dem Flugzeug angetreten worden.
Sie erfolgt am Landweg. Das Vorhaben: von Österreich mit Bahn, Bus und Schiff bis nach Marokko zu kommen. Rund dreitausend Kilometer sind es von Linz nach Tanger, der nördlichsten Stadt Marokkos. Von da aus noch einmal rund sechshundert Kilometer nach Marrakesch.
Gute Reiseplanung
Die Recherche nach Routen und Tickets nimmt mehrere Abende in Anspruch. Nach einigem Hin und Her fällt die Wahl auf die Strecke Linz–Frankfurt/M.–Marseille–Madrid–Granada, weiter im Bus nach Tarifa und von dort aus mit der Fähre nach Marokko. Diese Variante scheint gut machbar und ist zu diesem Zeitpunkt am günstigsten. Die Tickets werden bei den Bahn- und Busgesellschaften der einzelnen Länder vorab online gekauft. Gesamtpreis: rund 250 Euro für die einfache Fahrt.
An einem nebeligen Tag im Jänner verlässt der ICE pünktlich um 8.17 Uhr den Linzer Hauptbahnhof und fährt fünf Stunden später in Frankfurt/Main ein. Zum Umsteigen bleiben zwanzig Minuten.
Ab Frankfurt sind es noch rund acht weitere Stunden in die französische Hafenstadt Marseille. Die langen Fahrten im Zug vergehen erstaunlich schnell. Obwohl gut mit Büchern ausgestattet, reicht meist der Blick durch die Scheibe, Begleitmusik in den Ohren. Das Fenster umrahmt die vorbeiziehende Landschaft wie ein Fernseher.
Draußen ist es kalt und grau. Drinnen herrscht Geborgenheit. Ein Zugabteil, das ist wie ein kleines, warmes Häuschen. Man ist ganz mit sich allein und trotzdem umgeben von einem beruhigenden Stimmengewirr. Man ist mitten im Abenteuer und fühlt sich gleichzeitig bestens aufgehoben.
Einzige Unterbrechung dieses tranceähnlichen Zustands ist eine kurze Unterhaltung mit Fred, dem Speisewagenmitarbeiter im TGV. Fred hat müde Augen. Kein Wunder. Schon den ganzen Tag lang ist er auf den Beinen. Er steht in einem kleinen Kiosk und verkauft Kaffee und Baguettes. „Ich habe heute schon die Strecke Paris–Frankfurt/Main zurückgelegt. Feierabend kann ich aber erst machen, wenn wir in Marseille sind“, erklärt er mit einem bemühten Lächeln.
Kurz vor 22 Uhr trifft der Hochgeschwindigkeitszug im Bahnhof Marseille St. Charles ein. Zwei Nächte und ein ganzer Tag sind eingeplant, um sich die Beine zu vertreten. Das Schlendern durch die Stadt mit mediterranem Flair ist nach dem langen Sitzen eine Wohltat. Der Blick von der Kathedrale Notre-Dame de la Garde über das Meer und den Hafen wirkt majestätisch. Im Viertel Cours Julien zeigt sich Marseille von seiner alternativen Seite. Ateliers, kleine Cafés und Straßenkunst haben sich in diesem Stadtteil angesiedelt. Die zweite Nacht birgt etwas völlig Unerwartetes: den spontanen Besuch einer Szeneparty in einer stillgelegten Druckerei. Eine Einladung von Fremden.
Marseille ist noch in das tiefe Schwarzblau des Morgens getaucht, als der Zug die Stadt in Richtung Madrid verlässt. Er tuckert vorbei an mit Graffiti besprühten Wänden, nimmt rasch Fahrt auf und saust an einer Landschaft aus Kalkfelsen vorbei, die Morgensonne im Rücken. Im Garten eines Hauses steht ein Orangenbaum, die Früchte zum Greifen nah. Die Orangen, die Oliven, das Meer – sie zeigen, dass die Reise südwärts geht.
Seele auf Wanderschaft
So wie der Zug die unterschiedlichen Landschaften durchstreift, begibt sich auch die Seele auf Wanderschaft. Irgendwo auf der Strecke gehen die Gedanken verloren, neue kommen hinzu. Langes Zugfahren fühlt sich fast ein bisschen wie Meditieren an. Der Körper gewöhnt sich an den monotonen Klang der Schienen, an das sanfte Vibrieren des Tisches. Das Herz schlägt langsamer, das Gedankenkarussell hört auf, wie wild zu rattern.
Ankunft nach rund acht Stunden Fahrt am Bahnhof Madrid Atocha, umsteigen in den Zug nach Granada. Nicht einmal fünf Stunden später auf der Dachterrasse der Unterkunft in Granada: Die Sonne wärmt das Gesicht, der Blick richtet sich auf die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada.
Abends im Mehrbettzimmer des Hostels erzählt eine junge deutsche Studentin, dass sie gerade aus Marrakesch zurück ist. Sie hat dort eine Freundin, mit der sie während eines Auslandsaufenthalts zusammengearbeitet hat. „Ob ich es bis nach Marrakesch schaffe, weiß ich noch nicht – aber kannst du mir bitte den Kontakt deiner Bekannten geben?“ Ihr Name ist Samira.
Nach ein paar Tagen in Granada mit Besichtigung der Stadtburg Alhambra und einem Abstecher nach Málaga werden die letzten paar Hundert Kilometer auf dem europäischen Kontinent im Bus zurückgelegt. Endstation: Tarifa.
Notgedrungener Halt
Der Ort, an dem sich Mittelmeer und Atlantik begegnen. Das windumtoste Kitesurferparadies liegt am südlichsten Zipfel Spaniens und gibt den Blick auf Nordafrika frei. Auch hier wird länger Halt gemacht – notgedrungen. Wind und Wellengang sind zu intensiv für die Fähre in Richtung Marokko. Durch das Tor aus dem 13. Jahrhundert in die maurische Altstadt von Tarifa zu schreiten fühlt sich aber ohnehin fast an, als wäre man schon am Ziel.
Erst ein paar Tage später beruhigt sich der Wind. Zeit für die Überfahrt. Die Fähre legt ab, ein Kontinent wird verlassen, ein neuer angesteuert. Vierzehn Kilometer eng ist die Stelle zwischen Tarifa und Tanger, der marokkanischen Hafenstadt. Eine Stunde lang gleitet das Schiff über das Meer. Der Wind wirkt als Vermittler zwischen den Welten.
Ankunft in der Fremde
Gleich hinter dem modernen Hafen liegt die Medina von Tanger: dunkle, steile Gassen, Männer in Djellabas, bodenlangen Umhängen mit Kapuze, Berge von Orangen, Minztee, Marktschreier und der Ruf des Muezzins. Ankunft in der Fremde.
Tanger zeigt sich außerhalb der Altstadt fortschrittlich, hell und freundlich, es wird gehämmert und gebaut. Auch der Bahnhof wird zu diesem Zeitpunkt grundlegend umgestaltet. Eine neue Reise beginnt – in Zügen und Bussen geht es über Asilah, Tétouan, Chefchaouen, Fès und Meknès am Ende doch noch bis nach Marrakesch und zu Samira.
Alternative Zugrouten
Eine weitere Routenoption von Österreich nach Marokko führt (mind. 4 Umstiege) über Zürich, Paris, Barcelona und Antequera-Santa Ana nach Algeciras in Südspanien, wo die meisten Fähren nach Tanger (Marokko) ablegen. Reine Fahrtzeit: 42 Std.
Eine Alternative führt über Straßburg und Nîmes nach Spanien.
Wer auf Sparangebote zugreifen möchte, muss evt. andere Routen und längere Fahrzeiten in Kauf nehmen. Günstiger/zeitaufwendiger ist es, zwischendurch auf den Bus umzusteigen. Es ist ratsam, die Reise akribisch vorzubereiten und Zeit für Aufenthalte einzuplanen
Auskunft
visitmorocco.com/de
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