Verfahren Depp-Heard: Die Öffentlichkeit hat bereits entschieden
Das Verfahren Depp-Heard ist zwar noch in vollem Gange, einen klaren Gewinner gibt es aber bereits. Zumindest online. Das Internet, so scheint es, hat sich im Kollektiv auf die Seite Johnny Depps geschlagen. In der Rolle der vermeintlich eiskalten Manipulatorin: Ex-Frau Amber Heard.
Die gegenseitigen Vorwürfe werden bereits seit 11. April in einem öffentlich übertragenen Prozess detailliert ausgebreitet. Sie wiegen schwer. Heard beschuldigt Depp psychischer, physischer und sexueller Gewalt in der Beziehung, Depp gibt an, selbst von Heard emotional und körperlich misshandelt worden zu sein. Wer auch immer in dem Verfahren die Wahrheit sagt, Fotos, Tonband- und Videoaufnahmen zeichnen das Bild einer destruktiven Beziehung. Einen besonders guten Eindruck gibt rückblickend keiner der beiden ab.
Über Gewalt lachen
In den sozialen Medien ist man großteils anderer Meinung. Nur ein Beispiel: Auf der Plattform Tiktok wurden mit dem Hashtag #JusticeForJohnnyDepp (Gerechtigkeit für Johnny Depp, Anm.) gekennzeichnete Videos über 13 Milliarden Mal angesehen, #JusticeForAmberHeard generierte vergleichsweise nur 46 Millionen Views. Heards detaillierte Beschreibungen der mutmaßlichen Gewaltexzesse werden ihr nicht nur nicht geglaubt, sie wird dafür öffentlich verhöhnt und lächerlich gemacht. Jeder Gesichtsausdruck, jede Bewegung wird bis ins kleinste seziert und bewertet. Zahlreiche Tiktoker, die sonst auf ihrem Kanal Rezepte nachkochen oder Makeup-Tipps geben, machen sich nun einen Spaß daraus, Heards Aussagen Wort für Wort humoristisch nachzuspielen.
Memes (Bild mit darübergelegten Text, Anm.) mit ihrem möglichst unvorteilhaft fotografierten, weinenden Gesicht und zynischer Beschriftung machen auf Twitter und Instagram die Runden.
Eine Erklärung für diese Dynamik liefert Kerstin Schuller, Klinische und Gesundheitspsychologin bei Instahelp, der Plattform für psychologische Beratung online: „Wir suchen in solchen Situationen stets ein eindeutiges 'gut und böse' – alle Grauzonen dazwischen werden von unseren Gehirnen nicht gerne wahrgenommen. Das führt dazu, dass wir nur allzu leichtfertig ein Urteil darüber fällen, wer denn nun Opfer oder Täter sein könnte.“
Wie so viele intime Details aus ihrer Beziehung, liegen auch die Charakterschwächen der Beteiligten offen. Die ehemalige Paartherapeutin der beiden spricht vor Gericht gar von „gegenseitigem Missbrauch“. Darüber hinaus spendete Heard bisher nicht, wie versprochen, die Gänze ihrer Scheidungsabfindung dem guten Zweck. Sie ist also alles andere als ein perfektes Opfer. Doch warum weckt das eine derartige Welle der Häme? „In unseren Gehirnen existiert eine gewisse Vorstellung davon, wie das 'typische Opfer' zu sein hat: klein, leise, weinerlich, zerbrechlich“, erklärt dazu die Expertin. „Alles, was nun außerhalb dieser Erwartungen geschieht – beispielsweise eine Frau, die selbstbewusst auftritt oder übertrieben emotional reagiert – macht uns skeptisch und unser Gehirn signalisiert uns 'Irgendwas stimmt hier nicht'.“
Hexe und Held
Dabei wird gerne übergangen, dass auch Depps Verhalten in der Beziehung nachweislich nicht gerade unproblematisch war. Er, der über seine damalige Partnerin Amber einst in einer SMS schrieb: „Lass sie uns ertränken, bevor wir sie verbrennen. Ich werde ihre verkohlte Leiche anschließend f*, um sicherzugehen, dass sie tot ist“, wird als verkannter Held gefeiert. Nostalgie und falsch verstandene Loyalität könnten hier eine Rolle spielen: „Johnny Depp hat eine große Fangemeinde hinter sich, die an seine Unschuld glauben möchte “, meint dazu Kerstin Schuller. Es entstehe eine Dynamik, die dazu führt, dass man die andere Person gleichermaßen intensiv verteidigt, als würde es um die eigene Identität gehen.
Hinzu kommt ein weiteres psychologisches Phänomen – der sogenannte ’Halo-Effekt’ (von engl. Halo, Heiligenschein, Anm.) – der häufig zu Denkfehlern führt. Einzelne Eigenschaften einer Person (wie beispielsweise großer Erfolg) wirken dabei so präsent und dominant, dass sie einen überstrahlenden Gesamteindruck erzeugen und uns daran hindern, negative Aspekte wahrzunehmen. Gerade diese kognitive Verzerrung führt häufig dazu, dass den Tätern mehr Glauben geschenkt wird als den Opfern.
Weiters, so Schuller, käme es Depp zugute, dass man dazu neigt, jenen Personen die selbstbewusster und ruhiger sprechen, mehr Glauben zu schenken. „Das Gesagte wirkt dadurch automatisch authentischer und glaubwürdiger als die Erzählung einer Person, die stottert und sehr emotional spricht. Eine Tatsache, die gerade bei der Erzählung traumatischer Erlebnisse besonders problematisch ist, da hier eine unemotionale Darstellung kaum möglich ist.“
Kollateralschaden
Unabhängig davon, wer nun bei dem Verfahren die Wahrheit sagt, wer lügt oder übertreibt – die Reaktion der Öffentlichkeit hat äußerst reale Auswirkungen: „Sehr viele Menschen, die Opfer häuslicher Gewalt sind, haben große Hemmungen, über ihre Verletzungen und den Missbrauch zu sprechen. Scham, Schuldgefühle und die Angst davor, dass einem kein Glauben geschenkt wird, stehen dabei im Vordergrund.“ Gerade für diese Opfer – Männer wie auch Frauen – könne der aktuelle Prozess besonders problematisch sein, da deren größte Befürchtungen öffentlich ausgebreitet werden. Das mutmaßliche Opfer werde lächerlich gemacht und die Gesellschaft stelle sich auf die Seite des Täters. „All das sind Aspekte, die dazu beitragen können, dass sich Opfer weiterhin zurückziehen und es scheuen, über ihre Erlebnisse zu sprechen.“
Nur ein kleiner Teil der Gewaltdelikte, die sich in Beziehungen abspielen, wird tatsächlich angezeigt. Die öffentliche Bloßstellung Amber Heards wird nicht dazu beitragen, dass die Dunkelziffer sinkt.
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