Regretting Motherhood: "Ich liebe meine Kinder, aber bin nicht gerne Mama"
Wie fühlt es sich an, eine Entscheidung zu bereuen, die man nicht mehr rückgängig machen kann? Kein Job, den man kündigen, keine Ehe, die man scheiden, kein Haus, das man verkaufen kann? Wiebke Schenter weiß es. Die studierte Sozialökonomin wollte ihr Leben lang Mutter werden. Mit Anfang 30 bekam sie eine Tochter, fünf Jahre später einen Sohn. Könnte sie die Zeit zurückdrehen, würde sie sich heute anders entscheiden. Schenter würde keine Kinder mehr bekommen.
"Regretting Motherhood" nennt sich das Phänomen, wenn Mütter bereuen, Mutter geworden zu sein. Schätzungen zufolge bedauern in Industrieländern fünf bis 14 Prozent der Eltern ihre Entscheidung für Kinder. Bekannt wurde das Thema durch eine Studie der israelischen Soziologin Orna Donath aus dem Jahr 2015, die weltweit für Empörung sorgte.
"Was sind das für schreckliche Mütter?"
Auch Schenter, deren Tochter damals ein Jahr alt war, hörte davon - und reagierte zunächst ablehnend. "Ich dachte, was sind das für schreckliche Mütter, die so etwas sagen", erinnert sie sich im KURIER-Gespräch. Dabei haderte sie mit ihrer neuen Rolle. Aber: Sie machte sich selbst dafür verantwortlich. "Ich dachte, ich muss mich nur noch mehr anstrengen, dann wird es mir schon Spaß machen, Mutter zu sein."
Als Vater wirst du immer noch für alles gelobt. Als Mutter darfst du nichts falsch machen.
Denn Schenters Tochter war ein schwieriges, forderndes Baby - und ihre Rolle plötzlich ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Hinzu kam ihr - durch (soziale) Medien - idealisiertes Bild vom Mutter- und Familienleben: "Ich habe wirklich geglaubt, dass ich ein süßes Kind bekomme, das auf einer Decke liegt, während ich nebenbei den Haushalt mache, oder dass ich es überall mit hinnehmen kann", erzählt sie am Telefon. Im Hintergrund ist Kindergeschrei zu hören.
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Festgefahrene Mutterbilder
So wie Schenter geht es vielen. Denn die Rolle der Mutter wird nach wie vor stark idealisiert, sagt die Psychotherapeutin Ines Gstrein im Gespräch mit dem KURIER. "Unsere Gesellschaft ist sehr vielfältig geworden, aber wenn es um das Thema Mutterschaft geht, gibt es immer noch sehr festgefahrene Bilder." Vor allem jenes von der fürsorglichen, zugewandten Mutter, deren Rolle die Erfüllung ihres Lebens ist. "Wenn eine Frau dann sagt, dass die Mutterschaft nicht so ist, wie sie sich das vorgestellt hat, bricht sie ein Tabu."
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Dabei bedeute "Regretting Motherhood" keineswegs, dass man sein Kind nicht liebe, so die Expertin. "Es geht darum, die Rolle zu bereuen. Es geht um die schlaflosen Nächte und die ständige Verfügbarkeit. Oft liegt die ganze Verantwortung bei der Mutter, es gibt keine Entlastung und viele haben einen massiven Perfektionismus." Auf den Frauen laste daher ein enormer Druck - "und sie haben das Recht, sich davon zu befreien und andere Bilder von Weiblichkeit zu entwickeln".
Auch Schenter betont im Gespräch immer wieder: "Für meine Kinder heißt das nicht, dass ihre Mama sie nicht liebt, sondern nur, dass sie nicht gerne Mama ist." Das Gefühl, ständig für jemanden verantwortlich zu sein, belastet sie besonders. Im Laufe der Jahre habe sie sich zwar viele Freiheiten erkämpft - sie ist beruflich erfolgreich, ihre Partnerschaft beschreibt sie als gleichberechtigt -, "aber als Corona kam, habe ich gemerkt, dass das alles mit einem Fingerschnippen weg sein kann. Wenn alles zusammenbricht, muss ich da sein, denn ich bin die Mama."
Langer und schmerzhafter Prozess
Sich einzugestehen, dass die Mutterschaft nicht die absolute Erfüllung ist, ist ein langer und schmerzhafter Prozess. "Viele Frauen haben Angst, dass sie ein schlechter oder beziehungsunfähiger Mensch sind, dass mit ihnen was nicht stimmt", so Psychotherapeutin Gstrein. Sind die Kinder erst einmal da, gibt es für Frauen zudem meist kein Zurück mehr. "Wenn ein Vater seine Kinder nach der Scheidung jedes zweite Wochenende sieht, ist das normal. Stell dir das mal umgekehrt vor", sagt Schenter. "Als Vater wirst du immer noch für alles gelobt. Als Mutter darfst du nichts falsch machen. Und 'Regretting Motherhood', das gilt als Fehler.“
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Vor zwei Jahren entschied sich Schenter dennoch, ihren "Fehler" auf ihrem Instagram-Profil öffentlich zu machen. Zunächst hat sie Angst, spricht von Ambivalenzen, von guten und schlechten Tagen als Mutter, die wohl jeder nachempfinden kann. Zu groß war die Sorge "Regretting Motherhood" beim Namen zu nennen. Heute bekommt die Bloggerin in ihrer Community (knapp 100.000 Menschen folgen ihrem Instagram-Profil "piepmadame") dafür kaum noch Kritik. "Aber wenn mal ein Video viral geht und die Leute einen Ausschnitt von mir sehen, ohne zu wissen, wie ich an diesen Punkt gekommen bin, dann schreiben sie mir, dass ich eine Schande bin und mich schämen soll. Oder dass man mir die Kinder gleich wegnehmen soll."
Die Frauen sollen erfahren, dass Enttäuschung und Reue normal sein können.
Was Familien tun können
Psychotherapeutin Gstrein plädiert für einen offenen Umgang mit "Regretting Motherhood". Der Austausch mit Frauen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, helfe: "Die Frauen sollen erfahren, dass Enttäuschung und Reue normal sein können." Gemeinsam mit ihren Klientinnen versucht sie herauszufinden, woher die Reue kommt. Stecken Traumata oder eigene Kindheitserlebnisse dahinter? Ist es Perfektionismus, weil man sonst keine "gute" Mutter ist? Auch ein Trauerprozess muss möglich sein: "Gerade wenn der Kinderwunsch ein lang gehegter Traum war, steckt viel Enttäuschung hinter 'Regretting Motherhood'. Das aufzuarbeiten, braucht Zeit."
"Regretting Motherhood" (dt. "Bedauern der Mutterschaft) ist der Titel einer 2015 veröffentlichten Studie der israelischen Soziologin Orna Donath. Sie befragte Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und religiösen Hintergründen und wählte nur Frauen aus, die auf die folgende Frage mit einem klaren Nein antworteten: "Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, mit Ihrem heutigen Wissen und Ihrer Erfahrung, würden Sie dann nochmal Mutter werden?“
Die Studie erregte weltweite Aufmerksamkeit. Auf Social Media teilten Frauen unter #regrettingmotherhood ihre persönlichen Erfahrungen.
Die gute Nachricht: "Was auch immer die Frau dazu bringt, die Mutterrolle zu bereuen, sie hat ein Recht auf ihre Gefühle und sollte bestmögliche Unterstützung und wertfreie Hilfe erhalten." Viele Verhaltensänderungen können die Mutter entlasten: Kann der Vater oder ein anderes Familienmitglied in den ersten Jahren zu Hause bleiben? Kann das Kind schon früher in die Krippe?
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Wichtig sei jedenfalls, dass andere Unterstützungssysteme greifen, die für das Kind gut verfügbar sind. Und, dass differenziert kommuniziert wird: "Ich liebe dich als Mensch, aber es fällt mir schwer, immer verfügbar zu sein." Auf keinen Fall sollten die Kinder das Thema der Mutter auf sich beziehen und dadurch Schuldgefühle entwickeln. Schenter sieht das Thema "Regretting Motherhood" vor allem als Aufklärungsarbeit. "So wie wir über Sex reden, reden wir auch darüber, dass Mutterschaft eben nicht das Lebensziel jeder Frau sein muss." Ihre Tochter soll eines Tages wissen, dass sie eine Wahl hat.
Auch Gstreit ist sich sicher: "Wenn all diese gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter, all diese Klischees und dieser Druck unterwandert werden, dann werden sich in Zukunft auch mehr Frauen trauen, offen darüber zu sprechen.“
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