Als Homosexuelle von Russland nach Wien geflüchtet: "Sie würden mich töten"
In Russland werden die Rechte von LGBTIQ-Personen immer weiter eingeschränkt. In Österreich können Geflüchtete plötzlich sein, was sie lange nicht durften.
Wie auf einem anderen Planeten. So hat sich Nicole*gefühlt, als sie sich Mitte Juni in den bunten Demo-Zug der Regenbogenparade in der Wiener Innenstadt einreihte. Es war das erste Mal, dass Nicole öffentlich für die Rechte von LGBTIQ-Menschen auf die Straße ging. "Alle haben getanzt und gelacht. Es war so einfach“, erzählt die 38-Jährige mit strahlenden Augen. "Es war wunderschön."
Nicole hat sich ihren Namen für diesen Artikel selbst ausgesucht. Ihre Eltern haben ihr einen männlichen Vornamen gegeben. 37 Jahre lang lebte Nicole als Mann."Aber in meinem Inneren fühlte ich mich nie so", sagt sie zum KURIER. Nicole ist homosexuell und Transgender. Sie identifiziert sich nicht mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Vor einem Jahr flüchtete Nicole deswegen von Russland nach Wien. Hier kann sie plötzlich sein, was ihr lange verwehrt wurde.
*Nicole hat gebeten, in dem Text weibliche Pronomen zu verwenden. Rechtlich und medizinisch betrachtet ist sie ein Mann.
Wenn Nicole von ihrem Leben in Russland erzählt, spricht sie leise. Wort für Wort rollt sie ihre Geschichte auf. Die Angst aus ihrer Heimat hat sie noch nicht ganz überwunden. Auch wenn sie heute in Sicherheit ist.
Nicole sitzt im Büro von Queer Base, einer Organisation, die sich für die Rechte von Geflüchteten aus der LGBTIQ-Community (schwul, lesbisch, trans, inter oder queer) einsetzt. Ihre langen Haare wehen im Wind des Ventilators. Mit den Händen umklammert sie einen schwarzen Heftfolder. Papier, Stift und eine Ausgabe von "Der kleine Prinz" hat sie dabei, um die Sprache zu lernen, wie sie schüchtern erklärt – und einen blauen Briefumschlag.
Homosexualität war in Russland verboten
Nicole wuchs in den 1980er-Jahren in einer sibirischen Kleinstadt in der ehemaligen Sowjetunion auf. Sex war ein Tabu, Homosexualität galt bis 1993 als Verbrechen. Schon im Kindergarten merkte Nicole, dass sie anders war, als die anderen Kinder. "Ich mochte immer die Buben, nicht die Mädchen", sagt sie. Darüber sprechen konnte sie mit niemandem. "Ich kannte das Wort ‚schwul’ gar nicht. Ich hatte nur dieses Gefühl in mir. Das Verständnis kam erst viel später, als ich erwachsen war."
Mit 17 Jahren zog Nicole für das Medizinstudium nach St. Petersburg. Später eröffnete sie dort ihre eigene Arztpraxis. Eine Zeit lang war sie glücklich, sagt sie. "Ich hatte den Respekt meiner Patienten, eine Familie, Geld und eine große Wohnung." Doch auch im liberalen Zentrum Russlands musste sie ihre Sexualität im Verborgenen halten. "Es wären nicht nur Beleidigungen. Wahrscheinlich wäre ich auch körperlich angegriffen worden und hätte meinen Job verloren", fürchtet sie.
Zwar sind homosexuelle Handlungen in der russischen Föderation grundsätzlich legal, jedoch genießen LGBTIQ-Menschen weder staatliche Anerkennung noch Schutz. Sie dürfen nicht heiraten und gemeinsam keine Kinder adoptieren. Seit 2013 darf man sich nicht mehr positiv über Homosexuelle in Gegenwart Minderjähriger äußeren. Im Vorjahr wurde das "Homo-Propaganda"-Gesetz erweitert, sodass heute jegliche positive Darstellung von lesbischer oder schwuler Liebe strafbar ist.
Vor wenigen Wochen haben russische Abgeordnete in einer ersten Lesung zudem für ein Verbot chirurgischer Geschlechtsangleichungen für Transgender und für Einschränkungen bei der rechtlichen Anerkennung von Geschlechtsänderungen gestimmt.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum vom Oktober 2021 sind 69 Prozent aller Russinnen und Russen gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen. Nur 25 Prozent finden gleichgeschlechtliche Beziehungen in Ordnung.
In Russland offen homosexuell zu leben, ist gefährlich, sagt Nicole. Sie erzählt von körperlichen Angriffen und "Fake Dates": Homophobe Banden locken schwule, bisexuelle oder Transmenschen zu vermeintlichen Dates, zwingen sie zum Outing oder verprügeln sie. Ein Freund von Nicole sei dabei getötet worden.
Nicole hat sich nie geoutet
"Es gibt auch viele Fälle, in denen Menschen einfach verschwinden, nur weil sie LGBTIQ sind", sagt Nicole. Sie selbst hat sich daher nie öffentlich geoutet, nicht einmal vor ihrer Familie. "Wenn ich über mein Privatleben spreche, wird meine Mutter wütend."
Vielleicht werde ich eines Tages in einer Beziehung leben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meiner Mutter das erzählen würde.
von Nicole
Im Spätsommer 2022 entschied sich Nicole, dass sie ihre Heimat verlassen muss. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich die Situation für LGBTIQ-Menschen in Russland verschärft. Internationale Organisationen haben das Land verlassen. Als schwule Transperson fürchtete Nicole besonders, zur Armee eingezogen zu werden. "Sie würden mich töten", ist sie sich sicher. "Und niemand würde je den wahren Grund erfahren."
Durch einen ehemaligen Patienten schaffte sie es nach Wien. Dass sie in Europa ist, weiß kaum jemand.
Hilfe fand Nicole bei Queer Base. Die Organisation mit Sitz in Wien bietet Rechts-, Sozial- und Coming-out-Beratungen für Geflüchtete an. Viele der Klientinnen und Klienten kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Uganda oder Nigeria. "Auch aus Russland kommen jetzt wieder mehr Leute", erklärt die Sozialberaterin Marty Huber, die sich neben Nicole auf einen Stuhl setzt.
"Bei ihnen kommen mehrere Fluchtgründe zusammen - die zunehmende Verfolgung von LGBTIQ-Personen und die Angst vor der Einberufung in den Krieg-, was dazu führen sollte, dass diese Menschen eher positive Bescheide bekommen."
Mit welchen Situationen die Menschen in ihren Herkunftsländern konfrontiert sind, unterscheide sich stark, erklärt Marty Huber. „Manche schaffen es, zu fliehen, bevor schreckliche Dinge passieren. Andere sind vor der Flucht verhaftet, gefoltert, vergewaltigt oder zwangsverheiratet worden.“ Auch auf der Flucht in vermeintlich sicherere Länder sind queere Menschen häufig Übergriffen und Misshandlungen ausgesetzt.
„Es sind extrem schwierige Situationen, denen Flüchtlinge ausgesetzt sind. Sie fliehen nicht nur vor der staatlichen Verfolgung. Immer wieder kommt es auch zur sogenannten ‚Mob Justice‘. Gruppen aus der Nachbarschaft tun sich zusammen und verletzen, foltern oder verprügeln Menschen schwer“, sagt Huber.
Nicole hat Angst, dass die russische Regierung weiter Stimmung gegen LGBTIQ-Personen macht. Sie möchte in Österreich bleiben und hier als Ärztin arbeiten. Offene Anfeindungen hat sie hier noch keine erlebt. Ob sie glaubt, dass Wien eine neue Heimat für sie werden kann?
Nicole sucht sie ihrem Heftfolder und holt den blauen Briefumschlag heraus. "Der ist heute gekommen. Vielleicht kannst du ihn lesen? Er ist auf Deutsch."
Es ist ihr positiver Asylbescheid. "Gott sei Dank", flüstert Nicole und lächelt.