Ein Virus als Ursache Multipler Sklerose?
Seit Jahrzehnten wird an der Ursache für Multiple Sklerose (MS) geforscht – bisher gibt es allerdings nur Vermutungen, welche Faktoren eine Rolle spielen. US-Forscher der Harvard TH Chan School of Public Health veröffentlichten nun im renommierten Fachjournal Science eine umfangreiche Studie, die laut den Autoren zeigt, dass eine Infektion mit dem Ebstein-Barr-Virus (EBV) sehr wahrscheinlich die Hauptursache für MS ist.
Sie untersuchten Blutproben von mehr als zehn Millionen jungen Militärangehörigen über einen Zeitraum von 20 Jahren und identifizierten 955 Personen, die während ihrer Dienstzeit MS entwickelten. Sie hatten EBV-Antikörper im Blut. Die Studie zeigt, dass sich das Risiko für Multiple Sklerose nach einer EBV-Infektion um das 32-fache erhöhte. Bei Personen, die ursprünglich EBV-negativ waren, waren anfänglich auch keine Biomarker für MS nachweisbar. Das sind biologische Merkmale im Blut, von denen bekannt ist, dass sie die für MS typische Nervendegeneration anzeigen. Sie stiegen nach der EBV-Infektion an, noch bevor Symptome Multipler Sklerose erkennbar wurden.
"Großer Schritt"
"Das ist ein großer Schritt, denn es deutet darauf hin, dass die meisten MS-Fälle durch Stoppen der EBV-Infektion verhindert werden könnten und dass die gezielte Behandlung von EBV zur Entdeckung einer Heilung für MS führen könnte", sagte Alberto Ascherio, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard Chan School und leitender Autor der Studie.
Das Problem: 95 Prozent aller Menschen infizieren sich im Lauf des Lebens mit EBV, meist im Kindesalter, doch nur ein Bruchteil jener, die sich irgendwann einmal mit dem Virus anstecken, entwickelt MS. Bei den meisten Menschen bleibt die Infektion mit EBV ohne Symptome und folgenlos. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann sie sich als Pfeiffersches Drüsenfieber äußern, bei dem es zu Fieber, Müdigkeit, Halsschmerzen und geschwollenen Lymphknoten kommt. In der Regel heilt es rasch aus, bei einigen Erkrankten zeigen sich jedoch lebensbedrohliche Komplikationen wie Atemnot, Blutzellmangel oder langwierige Verläufe mit chronischem Müdigkeitssyndrom.
Neben MS wird EBV auch mit Krebs sowie anderen Autoimmunerkrankungen in Zusammenhang gebracht. Die Schlussfolgerung, dass eine EBV-Infektion Hauptursache für MS ist, sei aufgrund der Studie aber nicht eindeutig, meint Thomas Berger, Leiter der Uni-Klinik für Neurologie der MedUni Wien. "Der kausale Zusammenhang fehlt. Multiple Sklerose mit ihren sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen wird sicher nicht durch eine einzelne Viruserkrankung ausgelöst. Am ehesten ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren anzunehmen, darunter Genetik, Umweltfaktoren und Infektionen, die in Summe zusammenwirken", sagt Berger. Jedenfalls eine Rolle spiele ein überschießendes Immunsystem, was jedoch diese Reaktion auslöst, sei nicht bekannt, auch nicht durch die neue Studie.
Mehrere Faktoren
Roland Martin, Gruppenleiter Neuroimmunologie und Multiple Sklerose am Universitätsspital Zürich, bestätigt diese Einschätzung. "Die Daten der vergangenen 20 Jahre zur Ursache der MS besagen, dass es einen komplexen genetischen Hintergrund gibt, der MS wahrscheinlicher macht. Auch eine Reihe weiterer Umweltrisikofaktoren sind neben einer EBV-Infektion im Zusammenhang mit MS zu nennen: niedriges Vitamin D, Rauchen, Fettleibigkeit im späten Kindes- beziehungsweise frühen Erwachsenenalter, Schichtarbeit beziehungsweise ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus in diesem Alter sowie bestimmte Darmbakterien", so Martin.
Die Studienautoren leiten aus ihren Ergebnissen ab, dass eine Impfung gegen EBV sinnvoll wäre, um auch MS verhindern zu können. Diese Schlussfolgerung geht für Neurologen Berger zu weit. "Eine EBV-Impfung halte ich für grundsätzlich sinnvoll, da es bei Pfeiffersschem Drüsenfieber zu einem ausgeprägten Krankheitszustand kommen kann. Ich wage aber zu bezweifeln, ob man damit auch Autoimmunerkrankungen wie MS verhindert", meint MS-Experte Berger.
Bisher gibt es keine EBV-Impfung. Das US-Unternehmen Moderna, bekannt durch seinen Covid-Impfstoff, startete nun allerdings eine Phase-1-Studie mit einem mRNA-Impfstoff, der vor Erstinfektion oder Ausbruch des Pfeifferschen Drüsenfiebers schützen soll.
Unheilbar
Rund 2,8 Millionen Menschen weltweit sind weltweit von Multipler Sklerose (MS) betroffen, darunter die Schauspielerin Selma Blair (Bild oben), die ihre Diagnose 2018 öffentlich machte und seither die Öffentlichkeit mit ihrem Kampf gegen die fortschreitende, aber unheilbare Autoimmunerkrankung sensibilisiert.
Nervenfasern
In Österreich gibt es etwa 13.500 Betroffene, jedes Jahr erhalten 450 Menschen die Diagnose. Die fortschreitende Autoimmunerkrankung führt an verschiedenen Stellen im Gehirn und Rückenmark zu Entzündungen, wodurch es zu Schäden an Nervenfasern und in der Folge zu Funktionsbeeinträchtigungen kommt.
Symptome
Multiple Sklerose gilt als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ – sie verläuft sehr unterschiedlich, eine typische MS gibt es nicht. Häufig leiden Erkrankte unter Taubheitsgefühlen oder Kribbeln in Armen oder Beinen, starker Erschöpfung, Gang- und Gleichgewichtsstörungen sowie Sehstörungen bis hin zu Lähmungen. Die Krankheit verläuft schubartig und beginnt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.
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