Gemütlichkeit: Behaglich, bieder oder hygge?

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Sich's einfach gut gehen lassen – das ist ein Aspekt des "Gemütlichen". Doch es gibt auch Schattenseiten

Glamourös? Das ist Gemütlichkeit nicht. Im Etuikleid und mit High Heels kugelt man nicht auf dem Kuschelsofa herum. Zur Gemütlichkeit gehört Mut zum Laisser-faire, die Frisur sitzt nicht, die Jogginghose hat ein Loch, die Wollsocken sind alt, aber immer noch gut. Man ist ungeschminkt und schämt sich nicht für die Wärmeflasche in Teddybärenform. Herrlich.

Der Duden definiert den Begriff unter anderem als "zwanglose Geselligkeit" und "Ungezwungenheit". Dem "Wiktionary" geht es unter anderen um den "Ausdruck und die spezifische Färbung des deutschen Rückzugs ins Private". Die Synonyme dafür oszillieren zwischen Gemächlichkeit, Geruhsamkeit, Beschaulichkeit, Faulheit, Phlegma und, ja, trügerische Idylle. Bevor wir also bei Tee entspannen, ein kurzer Blick auf die Schattenseite der Komfortzone.

Hausbacken?

Immer schon stand Gemütlichkeit auch für das klassische "Biedermeier" – konservativ, hausbacken, trügerisch-idyllisch und politisch unentschieden. Statt auf die Straße zu gehen, lädt man zur Nachmittagsjause. Ein bisserl plaudern, ein bisserl lästern, den Aufstand unter den Tisch tratschen. Im Gedicht von Ludwig Pfau aus dem Jahr 1847 über den fiktiven Herrn Biedermeier wird der unpolitische Spießer und dessen Doppelbödigkeit skizziert: Schau, dort spaziert Herr Biedermeier und seine Frau, den Sohn am Arm, sein Tritt ist sachte wie auf Eier, sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm. Selbst die viel gepriesene "Wiener Gemütlichkeit" mit Achterl, Schweinsbraterl und Topfenstruderl stieß nicht immer auf Gegenliebe. Am Beispiel des Herrn Karl, dargestellt von Helmut Qualtinger mit "Behaglichkeit im Blick" (aus "Quasi Herr Karl" von Georg Biron) zeigt sich die Doppelbödigkeit des Gemütlichen. In der Tageszeitung Express schrieb Paul Blaha: "Das ist das Spiegelbild einer Volksseele, Gleichnis und Demaskierung einer Mentalität."

Vor allem in Bayern gilt ein Prosit auf die Gemütlichkeit, das Oktoberfest-Mantra wird noch heute gegrölt. Der Kabarettist Gerhard Polt versuchte einmal auszurechnen, wie teuer Gemütlichkeit ist. Er meinte, dass ein Bier in einem "Altmünchner Bistro" viermal so viel wie früher kostet. Sein Fazit: "Also ist es heute viermal gemütlicher als früher." Gemütlichkeit sei ein "Geflecht aus Zeit, Bier und Geld".

Und wo stehen wir heute?

Heute verpacken wir den deutschen Begriff in dänisches Wickelpapier und sagen "Hygge" dazu. Geborgenheit, die sich auf Accessoires stützt – Vollholzküchen, Kochinsel, große, schwere Keramikhäferln, dampfender Kakao, Kaminfeuer. Laut "Lexikon der schönen Wörter" ist Geborgenheit "jener Zustand, der Schutz, Zuneigung und Vertrautheit mit Menschen und Orten bündelt". Die Sehnsucht danach scheint größer denn je zu sein. Mehr Hygge braucht der Mensch, wohl deshalb sind die Instagram-Accounts voll mit Momentaufnahmen des Gemütlichen. Schaut her, so kuschelig ist es gerade bei uns! Das vermittelt Halt und ein neues "Wir-Gefühl".

Privat und sicher

Im Zukunftsreport 2017 wurde der Hygge-Trend als sozialere und weichere Form des Cocoonings beschrieben, der sich "aus der Sehnsucht nach einer kooperativen Gesellschaft speist, nach einem Bedürfnis für Konnektivität und Kommunikation ebenso wie nach Privatheit und Sicherheit".

Auch die dänische Gemütlichkeit hat ihre Skeptiker. In einem Artikel der SZ mit dem Titel "Die Mär vom einfachen Leben" wird sie kritisch ins Visier genommen, weil damit ein Frauenbild gezeichnet wird, mit dem nicht alle einverstanden sind: Zimtsterne backende Mütter, die "alte Bettwäsche zu Blusen umnähen". "Es ist ein Frauenbild, als säße Adolf Hitler unterm Tisch und mache Familienpolitik. Während draußen die Welt Einmischung und politisches Engagement bräuchte, wird das Zuhause zum Flausch-Bunker hergerichtet", heißt es.

Dass Zimtsterne backen und politisches Engagement einander allenfalls nicht ausschließen, wird nicht erwähnt. Was schade ist. Denn das Verlangen nach Rückzug aus einer temporeichen Welt ist legitim, unabhängig davon, von den Trends der Trendforscher. Es spricht nämlich nichts gegen ein paar behagliche Stunden im Ohrensessel, während man abwechselnd ins Kaminfeuer blickt oder in ein gutes Buch. Apropos Trend. Hygge ist schon wieder passé, der nächste Hype lauert um die Ecke: "Lagom" (schwedisch) steht für "das rechte Maß". Ins Lebensgefühl übersetzt bedeutet das etwa einen bewussteren Umgang mit Ressourcen und den Sinn fürs Wesentliche.

Was wäre unser Leben ohne all diese "Glücksformeln"? Vielleicht ein bisserl gemütlicher.

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