Glaubt man gängigen Medien- und Kommunikationstheorien, besteht die Welt nur noch aus Echokammern, Filterblasen, in denen jeder nur das hört, was er hören will, was ihn in seiner Sicht der Dinge bestätigt.
Ob das so stimmt, sei dahingestellt – aber es hat einen wahren Kern. Der aber liegt in der Natur des Menschen und ist keine Erscheinung des digitalen Zeitalters: dass es den Menschen nämlich immer zu seinesgleichen zieht, dass er nach Zustimmung und Bestätigung sucht. Mit anderen Worten: die Echokammern gibt es seit jeher auch im analogen Leben.
Gleichzeitig liegt es freilich auch in der menschlichen Natur, die Grenzen zu überschreiten, den Austausch, die Konfrontation zu suchen. Auch das passiert immer schon – und auch das gibt es ja, entgegen der „Filterblasen“-Kritik, durchaus auch in den Sozialen Medien.
Gegen eine simplifizierende Fragmentierungsthese muss man auch sagen: so etwas wie „Weltöffentlichkeit“ ist überhaupt erst durch die modernen Massenkommunikationsmittel ab dem 19. Jahrhundert möglich geworden.
Früher hörte "die Welt" auf gar niemanden
Ob ein Mensch früherer Jahrhunderte wusste, etwa welcher Kaiser gerade im fernen Wien oder Prag residierte, welche Politik er verfolgte, oder wie der Papst hieß, der in Rom oder Avignon saß, und worin seine Lehrmeinung bestand? Eher nicht.
Früher also hörte „die Welt“ auf gar niemanden – und die Echokammern der überwiegenden Zahl der Menschen waren wohl recht eng und klein. Globale Autoritäten sind ein relativ junges Phänomen. Dennoch ist wahr, dass wir es mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun haben: Je mehr die Welt zum „globalen Dorf“ zusammenwuchs, desto mehr splitterte sie sich gleichzeitig auf; mit dem Entstehen einer Weltöffentlichkeit traten die Teilöffentlichkeiten umso stärker hervor.
Und je komplexer die Wirklichkeit, desto größer das Bedürfnis, ja die Sehnsucht nach zweierlei: nach Einfachheit und Überschaubarkeit (Komplexitätsreduktion) – und nach Orientierung bzw. Personen, die solche zu geben imstande sind (oder dies zumindest versprechen).
In einer säkularen Gesellschaft, die ihre Maßstäbe nicht von einer übergeordneten Wirklichkeit herleitet, ist es freilich nicht von vornherein ausgemacht, wer solche Personen sind. Und selbst profane Autoritäten – Staatenlenker, Vorsteher internationaler Organisationen – verstehen sich nicht mehr von selbst, werden nicht fraglos als solche akzeptiert; bezogen doch auch sie ihre herausgehobene Stellung von einer quasireligiösen Aura, die ihr Amt umgab.
Auch Autoritäten sind volatil geworden. Deswegen heißen sie heute Influencer. Die erfolgreichsten unter ihnen gebieten über eine unübersehbare Zahl an Followern auf Instagram & Co., von der traditionelle Entscheidungsträger und Stars aller Art nur träumen können. Sie üben schon allein aufgrund ihres So-Seins, durch das, wie sich geben, bewegen, schauen, Einfluss (influence) auf Scharen junger Menschen aus.
Aber ob die Welt auf sie hört? Aus gegebenem Anlass wurde zuletzt oft auf Taylor Swift und die US-Präsidentschaftswahlen hingewiesen. Die gewann bekanntlich nicht die von Swift – und der überwiegenden Mehrheit der in unterschiedlichster Weise tonangebenden Eliten im weitesten Sinn – unterstützte Kamala Harris, sondern bad boy Donald Trump. „War wohl nichts, Taylor Swift“, vermerkte die Frankfurter Allgemeine lakonisch.
Ob umgekehrt die Welt auf Donald Trump hört? Eher nicht im Sinne des Hörens auf eine globale Leitfigur. Aber sehr wohl blickt und hört die Welt natürlich – gespannt, besorgt, mit welch gemischten Gefühlen auch immer – auf die Signale, die der erratische Unberechenbare im Weißen Haus aussendet. Da nimmt der US-Präsident – zumal wenn die Rolle solcherart besetzt ist – noch immer eine Sonderstellung unter den global leaders ein.
Aber das andere Hören? Jenes Hören, das seinen tiefsten Ursprung im Religiösen hat? Hier geht es um ein tiefes, existenzielles Hören, eine Sensibilität für das Wesentliche, für die sogenannten „letzten Dinge“. Etwas, das sich heute vielen nicht mehr erschließt. Im neutestamentlichen Buch der Offenbarung heißt es: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.“ (Offb 3,20) Und im Johannesevangelium sagt Jesus: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“ (Joh 18,37) Worauf Pilatus ratlos zurückfragt: „Was ist Wahrheit?“ Das war auch damals schon keine ganz leichte Frage.
Grundgelegt ist diese existenzielle Bedeutung des Hörens bereits im Judentum. Einer der wichtigsten Texte des Judentums findet sich im Buch Deuteronomium, das sogenannte „Schma Jisrael“ („Höre, Israel!“): „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. […] Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.“ (Dtn 6,4 ff.) Erst auf dieser Basis ist das Neue Testament und damit auch das Christentum verstehbar.
Die alttestamentlichen Propheten, die Apostel, natürlich Jesus selbst – sie alle waren „Influencer“ ihrer Zeit. Der für die Entstehung der jungen Kirche überhaupt wichtigste Influencer, ohne den die „Jesus-Bewegung“ wohl nie zur Institution geworden wäre, war Paulus. Er hätte heute mutmaßlich Abermillionen an Followern. Ob er eine US-Wahl beeinflussen könnte, sei dahingestellt. Vielleicht hätte er es auch gar nicht versucht.
Die Nachfolger der Apostel haben es indes heute nicht ganz leicht, sich Gehör zu verschaffen. Immerhin ist die katholische Kirche die einzige Glaubensgemeinschaft, die jedenfalls den Anspruch stellt, in Person ihres Oberhauptes, des Bischofs von Rom, verbindlich für die Gesamtheit ihrer Mitglieder zu sprechen. Ein solches „Lehramt“, auf das dem Selbstverständnis nach zumindest die katholische Welt hört, gibt es sonst nirgendwo. Wie schwierig das im wirklichen Leben ist, ist jedoch gerade in den letzten Jahren des weltkirchlichen synodalen Prozesses deutlich geworden. Dagegen sind die oft beklagten „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ innerhalb der Europäischen Union ein Klacks. Freilich: im Unterschied zur EU kann die Kirche auf die einigende Kraft des Heiligen Geistes setzen …
Auf wen also hört die Welt heute? Auf viele gleichzeitig – und auf unterschiedliche Stimmen in den zahllosen kleinen Teilwelten. Auf Blender und Verführer, ja, auf die auch. Letztlich aber immer auf jene, welche imstande sind, ein Stück des Weges zu weisen, Perspektiven zu eröffnen und Hoffnung zu geben.
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