Also doch – die Erde ist eine Scheibe
Kaum haben sich die Tore geöffnet, strömen die Platten sammelnden Musikliebhaber ins Paradies. Hektisch orientierungslos. Zielstrebig geradlinig. Oder vor Überforderung erstarrt. Unterschiedlich sind die Verhaltensmuster. Die Lichter am schwarzen Hallendach gleichen dem Sternenhimmel, der auch nie zu enden scheint. Darunter breitet sich das Meer der Tonträger aus. Millionen. Stoßweise auf den Tischen von über 500 Händlern gereiht, gestapelt, im Idealfall nach Musikrichtungen, Interpreten und Alphabet katalogisiert. Aber meist verlangt die Unordnung der Masse den Einsatz der körpereigenen Suchmaschine – die Kombination von Kennerblick, flinken Fingern und einsetzenden Rückenschmerzen.
Es füllen sich die Brabanthallen im niederländischen Hertogenbosch. Gemeinsam geschwebt wird auf dem Recordplanet, der größten Platten-Messe der Welt. An drei Tagen ist der Ort Drehscheibe für Vinyl-Liebhaber, Vertreter des vor ein paar Jahren einsetzenden Revivals, beeindruckend zelebriert auf 16.000m2 Verkaufsfläche. Der erste Tag war nur den Händlern vorbehalten. Gekommen sind sie aus Brasilien, oder Südafrika, den USA, aus Europa sowieso. Gute Geschäfte sind wichtig, um ihren erheblichen Aufwand zu entschädigen.
Bunt gemischt
Tag zwei. Gemischt ist das Publikum der Jäger und Sammler. Klischeebehaftete, ins Grau geratene Typen, die immer schon Platten auf Teller gelegt haben, suchen nach Ergänzungen ihrer Kollektionen. Anzugträger rollen ihre immer schwerer werdenden Metall-Trolleys unabsichtlich über fremde Füße.
„A well respected Man“ – die Kinks-Coverband bietet auf der Showbühne den respektablen Soundtrack zum Szenario. Am Stand daneben wühlen Teenager, männlich wie weiblich, im Soul-Angebot der 1960er-Jahre. Klassik, Jazz, Rock, Pop, Punk, Funk, Metal in allen Variationen, Schlager, LPs und Singles zumeist aus zweiter Hand, begehrte Erstpressungen, Sondereditionen, teure Raritäten, ausgewiesene Stückpreise zwischen einem und 5000 Euro.
Hinter seinem 5000 Platten umfassenden Angebot lehnt Thilo Kelling. Der Händler aus Bremerhaven – im Hauptberuf Inhaber einer Marketing-Agentur – erklärt, wo er seine Quellen findet: „Wir kaufen ganze Plattensammlungen nach Todesfällen, oder wenn jemand seinen Partner rausgeschmissen hat. Auch bei Geschäftsauflösungen werden wir aktiv.“
Steinig
Tom Sattler aus dem Ruhrgebiet hat seine große Leidenschaft ins Geschäft kanalisiert: Rolling-Stones-Platten aus allen Dekaden und Ländern. Die Besonderheit in seinem Angebot: Sticky Fingers, das zum 50-jährigen Jubiläum gepresste Kultalbum auf einer Mischung aus Vinyl und recyceltem Cola-Plastik. Liebhaberpreis: 2500 Euro.
Unübersehbar ist ein klarer Trend, der die CD längst zur Nebenerscheinung degradiert. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Vinyl aus den 90ern – damals in der Hochblüte der kompakten Silberlinge seltener produziert – ist jetzt begehrte Ware. Allerdings erzeugt die Aktualität einen neuen Engpass. Weltweit rar gewordene Presswerke und verknappte Vinyl-Ressourcen verlängern das Warten auf Neuerscheinungen. Bis zu einem Jahr kann die Zeitspanne zwischen Aufnahmestudio und Plattenladen dauern. Unweigerlich taucht sie auf, die von Freaks verbalisierte Ehrfurcht vor dem „Schwarzen Gold.“
„30.000 Menschen kommen in drei Tagen hier her“, sagt Stephan van Zal. Der 51-Jährige hat heuer erstmals die Rolle als Messe-Veranstalter übernommen. Großteils abwesend seien mittlerweile Händler aus Großbritannien. „Der Brexit hält sie fern. Die Steuern machen es fast unmöglich, halbwegs einen Gewinn zu erzielen.“ Früher sei das anders gewesen, erinnert sich Van Zal. An jene Zeiten, als auf der Messe im Rahmen der englischen „Omega Auktion“ die Besonderheit einer Single von den Sex Pistols beispielsweise um 20.000 Euro versteigert worden war.
Zeitenwende
„Ich bin zufrieden“, atmet Peter Lehner durch. Der Plattenhändler aus dem 7. Wiener Gemeindebezirk ist seit mehreren Jahren Stammgast. Er hat anscheinend bekommen, was er wollte. Aus der Plastikwanne in seinem Schlepptau nimmt er drei LPs. Jazz für Spezialisten, „schwer zu kriegen, leicht zu verkaufen.“ Der Markt würde sich laufend verändern.
Der Markt hat seinen Platz gefunden. Stephan van Zals Blick schweift durch die Halle und erklärt, warum er im Zeitalter der Digitalisierung an der Vergangenheit hängt: „Die Leute bekommen auf Streamingplattformen einen Überblick, aber wer Musik hören will, hört Vinyl.“
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