Wer heute von „Augmented Reality“ spricht, denkt meist an Datenbrillen oder Smartphone-Anwendungen, die unsere Sicht der Welt „erweitern“ oder gar „verbessern“ sollen („to augment“ lässt sich als beides übersetzen).
Dabei ist zeitgenössische Kunst längst damit befasst, die Wahrnehmung zu erweitern. Meist kommt sie dabei ohne digitale Mittel aus.
Als etwa die Einrichtung für Kunst im öffentlichen Raum (KÖR) kürzlich einen monumentalen Steinblock am Wiener Graben aufstellen ließ, ging es weniger um Behübschung als darum, das Verständnis von Denkmälern an städtischen Plätzen zu erweitern. Zum Konzept der italienischen Künstlerin Lara Favretto gehört es, das Objekt nach Ende der Laufzeit (5. 11.) zu zerstören und die Teile weiterer Verwendung zuzuführen. Bis dahin können Passanten durch einen Schlitz Geld in den Monolithen werfen, das einem wohltätigen Zweck zugutekommt: Seit 2009 schafft Favretto solche Werke, die betonen, dass eine Gesellschaft ihre Monumente zuerst selbst mit Bedeutung aufzuladen hat.
Skulptur als Gemeinschaftsprojekt schwebt auch Reinhold Zisser vor. Lange betrieb der Künstler die „Notgalerie“ nahe der Seestadt Aspern. Als er im März 2021 kurzfristig die Erlaubnis bekam, den Platz weiter zu nutzen, erfand er ihn als Dream Estate neu: Mit Betonsockeln und Holzelementen entstanden 12 bühnenartige Elemente, die am kommenden Wochenende (13.–15. 8.) mit einem „partizipativen Akt aktiviert werden“, wie der Künstler sagt: Zisser lädt dazu Interessierte ein, auf jeder Plattform ein Zelt aufzuschlagen. Ob man dort nur übers Wochenende kampiert oder die Fläche für eigene Präsentationen nutzt, ist jedem selbst überlassen (Infos und Reservierung: www.dreamestate.at).
Das Holzgebäude der einstigen „Notgalerie“ ist heute teils bei Projekt-Mitstreitern eingelagert (der KURIER berichtete), ein Teil übersiedelte aber nach Hall/Tirol:
Bevor er 2022 reaktiviert wird, ist dort (und an weiteren Standorten) auf Initiative des Bischofs Hermann Glettler noch bis 30. 9. die Ausstellung Gebt mir Bilder zu sehen. Mit zeitgenössischer Kunst erinnert sie an den vor 500 Jahren geborenen Missionar Petrus Canisius, der dem Bilderverbot entgegentrat. Der Belgier Kris Martin baute dazu etwa die Rahmenform des Genter Altars nach und ließ sie frei stehen – auf dass jeder selbst seine geistigen Bilder hinzufügen möge.
Die Strategie, mit subtilen Anstößen die Imagination auf Reisen zu schicken, verfolgen viele aktuelle Kunstprojekte im öffentlichen Raum. So installierte der in Wien lebende Elvedin Klačar als Teil der Schau Land, Besitz und Commons, die bis 17. 10. in und um den Kurort Semmering/NÖ zu sehen ist, einen käfigartigen Raum auf einer Rodelwiese; im Inneren sind Tierstimmen zu hören, es geht um die Verdrängung von Natur und die Vorstellung eines neuen Miteinanders von Mensch und Tier.
Auch in Wien holen öffentliche Kunstprojekte Vergangenes und Verdrängtes in den Fokus: Das Duo Tracing Spaces, das bis 2022 auch das touristische Erlebnis entlang der Glockner-Hochalpenstraße mit zeitgenössischer Kunst kritisch begleitet (tracingspaces.net; ergänzende Ausstellung bis 29.8. im MMKK Klagenfurt), hat sich etwa daran gemacht, an den Standort der einstigen NS-Propagandaschau „Der ewige Jude“ am Wiener Nordwestbahnhof zu erinnern. Wo möglich, wird vor Ort der Verlauf der Ausstellung auf den Boden gepinselt.
Mit „Augmented Reality“ in Form von Tech-Gadgets hat all das reichlich wenig zu tun. Mit einem geschärften, informierten Blick auf die Realität aber jede Menge.
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