Wagner: Wie ein Berg mit vielen Gletschern

Staatsoper: Amfortas - Thomas Hampson, honorarfrei
Starsänger Thomas Hampson schreibt über Wagner-Partien, Romantik und den Sinn von Jubiläen.

Ein Jahr wie das heurige, in dem die 200. Geburtstage von Richard Wagner und Giuseppe Verdi gefeiert werden, ist für uns Sänger sehr wichtig. Solche Jubiläen gehören zu unserem Beruf, zu unserem Betrieb dazu. Aber es sollte nicht nur darum gehen, lexikalisch ein Werk nach dem anderen aufzuführen, sondern um das, was dahintersteckt. Um das Narrative. Um den ideologischen Background. Und vor allem um den musikalischen.

Wagner: Wie ein Berg mit vielen Gletschern
Woher kommt jemand wie Wagner, der schon zu Lebzeiten umstritten war, der zwischen Buddhismus, Vegetarismus, Antisemitismus und Anarchie stand und dessen Musik stets in der Mitte schwebte? Für mich ist Wagner ohne Franz Schubert und ohne Carl Loewe undenkbar. Und auch ohne Robert Franz, der sein Lieblings-Liedkomponist war. Diese Künstler waren wie Quellen, die zum großen Fluss Wagner führten.

Man ist im Jahr, in dem Wagner und Verdi gefeiert werden, auch schnell präokkupiert von diesen beiden Giganten – und darf dabei keinesfalls auf Benjamin Britten vergessen, der vor 100 Jahren geboren wurde. Ich begrüße sehr, dass er in Zentraleuropa immer mehr berücksichtigt wird. Gerade sein Billy Budd war für mich eine der aufregendsten Aufgaben meiner bisherigen Karriere.

Bei Wagner hat man jetzt die Chance, in einem breiteren Umfeld wieder das Gedankengut seiner Zeit zu entdecken. Das vermisse ich heute sehr: Dass wir das Umfeld diskutieren. Warum war Wagner so versessen auf bestimmte Themen? Es gibt ja viele Leute, die – Gott sei Dank – in die Oper kommen, die Kunstform bewundern und die Musik genießen. Aber ich vergleiche das gerne mit einer Ausstellung: Man geht ins Museum, sieht alte Meister, bewundert die Farben, die Architektur der Bilder, sieht irgendwo einen hübschen Vogel sitzen. Aber erst wenn einem jemand die Ikonografie erklärt, wenn man die Hintergründe versteht, wird es plötzlich eine Erzählung.

Demut

Wir sind heute a priori visuell ausgerichtet, sind durch Fernsehen, Film und auch durchs Schauspiel auf Nachrichten oder Handlungen fixiert. Dabei bleiben aber so viele Metaphern verborgen. Das Poetische kommt abhanden. Das finde ich sehr schade. Nicht nur, aber natürlich auch bei Wagner, der eine enorme Breite an Zivilisationskenntnis hatte, der wie ein riesiger Berg ist, mit sehr vielen Gletschern, mehr als andere. Ein paar dieser Gletscher wird man niemals besiegen, niemals erobern. Mir fehlt in diesem Sinne die Demut vor dem Mysterium. Wenn man versucht, es zu stark zu konkretisieren, besteht die große Gefahr, dass alles zu klein wird.

Oper ist ja für mich in erster Linie eine musikalische Kunstform und nicht eine primär theatralische, also kein Theater mit Musikbegleitung. Jeder Atemzug, den ein Sänger macht, ist vom Komponisten vorgegeben. Das geht es um die musikalische Sprache. Darauf sollten auch die Regisseure vertrauen. Wenn man kein Vertrauen hat in die individuelle Fantasie des Zuhörers, brauchen wir auf der Bühne banale Bestandteile wie Toiletten oder Duschen. Mein Credo ist: Lasst die Musik die Fantasie erwecken, bevor wir irren oder in eine Richtung kommen, die das Werk verkleinert. Es geht um die Ideale, die in jeder Oper stecken.

Musiksprache

Bei Wagner, natürlich auch bei Verdi, ist die Sprache ganz zentral. Beide hatten die Fähigkeit, die Eigenart der Sprache Musik in einen metaphorischen Dialog zu setzen. Die Sprache unterscheidet die beiden aber auch sehr. Verdi flehte seine Librettisten an, Texte wie Gedichte zu schreiben, die erst beim Singen Emotion erwecken. Wagner wollte eine Erzählung des Seelenlebens erreichen, einen Nachdenkprozess während der Aufführung. Musik und Sprache kommen da ohne einander nicht mehr aus. In diesem Sinne ist er auch der Liedhaftere, was etwa Gustav Mahler sehr beeindruckte.

Ich erinnere mich noch gut, als ich vor vielen Jahren in Düsseldorf, meiner ersten Station im deutschen Sprachraum, den zweiten Gralsritter im „Parsifal“ gesungen habe. Ich war so beeindruckt von diesem musikalischen Rausch, dass ich ins Betriebsbüro gegangen bin und gefragt habe, ob es nicht andere kleinere Wagner-Partien für mich gäbe. Da hat man mir gesagt: Ich sei der erste Sänger seit Jahrzehnten, der nach kleineren Partien fragt.

Dann wurde plötzlich ein Heerrufer im „Lohengrin“ gesucht. Ich bekam die Rolle, aber die ersten 45 Minuten der Probe wurde ich belehrt über Brabant und das historische Umfeld – ohne einen einzigen Ton zu singen. Genau das ist bei Wagner so wichtig: der Hintergrund, was hineinzuinterpretieren ist, nicht das konkret Gesagte.

Auch beim Amfortas im „Parsifal“ ist die große Herausforderung alles, was man auf der Bühne nicht sieht und was man davor erlebt hat. Das Sehnende, Quälende, Geheimnisvolle, Schicksalsschlaghafte. Woher kommt die Schuldbelastung, die übrigens etwas besonders Deutsches ist? Wie erträgt eine menschliche Figur, die in Sünde geboren ist, diese fatale Verantwortung, die Fehler, das eigene Versagen?

Bei Wagner geht es um diese Fragen und um das Warum? Er hatte auch – im Gegensatz zu Verdi – kaum Ironie. Wahrscheinlich braucht er deshalb für seine Werke, die praktisch eine Entwicklung in Echtzeit zeigen, auch drei Mal länger.

Ich halte es übrigens für eine gefährliche Überlegung, Amfortas und Klingsor, seinen Widersacher, von der selben Person singen zu lassen. Das sind grundsätzlich verschiedene Typen und musikalisch daher auch anders geschrieben. Da geht es um einen anderen Klang.

Pausenbeschäftigung

Wenn ich den Amfortas singe, habe ich zwischen dem ersten und dem dritten Aufzug mehr als zwei Stunden Zeit. Das ist für mich dadurch wie zwei unterschiedliche Aufführungen, die ich an einem Abend singe. Ich bin dazwischen schon mit dem Hund spazieren gegangen, aber immer in der Maske, weil es sich sonst nicht ausgeht. Ich esse ein Sandwich. Oder nehme ein Privatzimmer, um andere Partituren zu studieren. Der zweite Aufzug, in dem ich nicht vorkomme, ist für mich eine ideale Studierzeit.

Zu den Partien, die ich regelmäßig gestalte, zählt auch der Wolfram im „Tannhäuser“. Wenn ich den singe, läuft mir immer der kalte Schauer über den Rücken, weil ich so begeistert bin, wie genial diese Oper komponiert ist. Wie etwa Tannhäuser und Wolfram erst nach dem Tod von Elisabeth eine gemeinsame musikalische Sprache finden – das ist brillant. Ich mag Superlative nicht so gern. Aber „Tannhäuser“ ist vom Einfallsreichtum her ein Wunder und die romantische Oper schlechthin.

Romantik“ ist überhaupt die Hauptzeit der Erweckung des Individuums. Selbst in der Poesie bei großen Dichtern dieser Zeit wie Heinrich Heine erlebte diese „Ich-Form“ die Vollendung.

Wenn diese künstlerischen und philosophischen Fragen heuer diskutiert werden, hat das Wagner- und Verdi-Jahr viel gebracht. Es muss aber nicht immer auf alles Antworten geben.

Am Sonntag im zweiten Teil der Serie: Jonathan Meese über Wagner und Radikalismus

Der 1955 in den USA geborene Bariton und Forscher zählt zu den bedeutendsten Lied- und Opernsängern der Gegenwart. Thomas Hampson (im Bild oben als Amfortas) hat im Mozartfach (u. a. als Don Giovanni), in Verdi-Partien (etwa als Posa in „Don Carlo“, als Germont in „La Traviata“ oder als Simon Boccanegra), aber auch in Wagner-Rollen (als Amfortas in„Parsifal“ und als Wolfram in „Tannhäuser“) Triumphe gefeiert.

Wagner: Wie ein Berg mit vielen Gletschern
Auf der KURIER-Doppel-CD "Richard Wagner" sind Auszüge aus vielen Opern des Bayreuther Meisters zu hören – von „Rienzi“ bis „Parsifal“, mit Passagen aus dem „Ring“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“, „Tristan“ etc. Als Dirigenten hört man u. a. Furtwängler, Karajan, Solti, Boulez, Thielemann, Welser-Möst am Pult der besten Orchester. Als Sänger sind Birgit Nilsson, George London, Plácido Domingo, Thomas Quasthoff, Jonas Kaufmann und weitere Stars vertreten.

Seit Freitag, 17. Mai, ist die CD auf den Markt. Sie kostet 19,90 Euro im Handel bzw.15,50 Euro über den KURIER-Club. Weitere Bestellinfos bei Universal Music.

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