Erreicht die Zensurwelle gegen queere Literatur nun Europa?
Von Laurenz Reidinger
Eine unlängst erschienene Umfrage der NGO "Index on Censorship" aus Großbritannien deutet auf eine Zunahme der Beschwerden gegen Bücher von queeren Autoren und über queere Thematiken an. 28 der 53 befragten Bibliothekare (53 Prozent) geben an, Aufforderungen von Eltern erhalten zu haben, Werke aus den Regalen zu entfernen. Auch in Ungarn begann die Buchhandelskette Libri, Bücher mit entsprechenden Inhalten in Klarsichtfolie einzuschweißen, um das Durchblättern dieser Werke zu verhindern. Hierbei beruft man sich auf das kontroverse, 2021 in Kraft getretene Kinderschutzgesetz der Orbán-Regierung.
Nichts Neues in den USA
In den Vereinigten Staaten sind Gesetze wie jenes in Ungarn sowie Kampagnen gegen Bibliotheken und Schulen schon lange kein Novum mehr. In rund 31 Bundesstaaten (Stand 2022), etwa in Texas oder Florida, drohen Institutionen und Individuen empfindliche Strafen, wenn sie Kindern LGBTQ-Literatur zugänglich machen. Texas ist dabei auch der Bundesstaat mit der höchsten Anzahl an Versuchen, bestimmte Werke aus den Bibliotheks- und Schulregalen zu entfernen. Laut Informationen, des amerikanischen P.E.N.-Clubs wurde in einem Bezirk sogar bereits über die vollständige Schließung der dortigen öffentlichen Bibliothek nachgedacht. Im Lone-Star-Bundesstaat wurden Stand April 2023 über 300 Bücher aus Bibliotheken in elf Bezirken verbannt. In Florida wiederum wurde es Lehrern teilweise verboten, selbst über die im Unterricht verwendeten Materialien zu entscheiden, sollten diese Themen wie etwa Rassismus, Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung behandeln. Schulen müssen nun Medienerzeugnisse, welche sie im Unterricht verwenden, oder ihren Bibliotheken anbieten wollen, durch zertifizierte Medienspezialisten evaluieren lassen. Sollte dieser Pflicht nicht nachgekommen werden, droht den Betroffenen ein Eintrag ins Leumundszeugnis.
Auch in anderen Bundesstaaten traten bereits Gesetze gegen Bücher mit queeren Thematiken in Kraft. Häufig ist nur das reine Vorkommen von LGBTQ-Charakteren ausreichend, um auf dem Radar der Kampagnen zu landen. Hinter diesen Verboten stehen meist rechte Aktivisten, Kirchen und Elterninitiativen, die in der Republikanischen Partei zunehmend Rückhalt und Unterstützer finden. Die konservativen Politiker rechtfertigen ihre Entscheidung unter dem Deckmantel eines Kampfs gegen Frühsexualisierung und der Freiheit der Eltern, ihre Kinder entsprechend den eigenen moralischen Überzeugungen zu erziehen.
Von biografischen Werken bis Kinderbücher
Die Liste der von Zensur betroffenen Bücher ist eine lange. Die einzelnen Werke bedienen verschiedenste Zielgruppen. Laut dem U.S.-Bibliothekenverband (ALA) werden Biografien wie Maia Kobabes „Genderqueer – Eine nichtbinäre Autobiografie” genauso ins Visier genommen wie Kinderbücher, wobei beispielsweise etwa Jessica Loves „Julian ist eine Meerjungfrau“ oder „ABC Pride“, ein kindliches LGBTQ-Lexikon von Louie Stowell, Elly Barnes und Amy Phelps, als besonders umstrittene Werke genannt werden. Schrifterzeugnisse, welche jungen Menschen, helfen sollen sich im Leben zurechtzufinden, zum Beispiel Juno Dawsons „This Book is Gay“, haben in den Bibliotheksregalen keine Chance. Auch gegen Literatur, die eigentlich nicht vorrangig entsprechende Themen behandelt, wie Stephen Chboskys High-School-Briefroman „Vielleicht lieber morgen“ oder John Greens Internatsdrama „Eine wie Alaska“, wird knallhart vorgegangen.
Lehrer und Bibliothekare unter Druck
Sowohl in Großbritannien als auch den USA ist es vorrangig das Bibliotheks- und Lehrpersonal, das dem Groll von Eltern und Aktivisten ausgesetzt ist. Viele Institutionen beginnen inzwischen mutmaßlich selbst, Bücher aus ihrem Bestand zu entfernen oder entscheiden sich aktiv gegen den Ankauf bestimmter Werke, um möglichen Protesten zuvorzukommen. Während auf den Inseln in Europas Westen der Druck auf das Personal eher deshalb entsteht, weil sie es sind, auf die Entscheidungen über den Ankauf von Büchern abgewälzt werden, berichten Bibliotheksangestellte und Lehrer in den USA sogar über Belästigungen und Gewaltandrohungen, sowohl in den sozialen Medien als auch im analogen Leben.
Bücher haben Vorbildfunktion
Besonders LGBTQ-Bürgerrechtsorganisationen sehen in dem neuen Trend eine Gefahr. Man sei sich dem Umstand bewusst, dass viele queere Kinder und Jugendliche, die zu Hause nicht den Rückhalt der Familie bezüglich ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität genießen, in Literatur und Filmen Bestätigung finden können. Auch wenn es sich um fiktive Personen handelt, sind die Charaktere oft Vorbilder für junge Menschen. Diese Idole würden ihnen durch das Verschwinden der Bücher genommen.
Kommentare