Uraufführung "Verrückt nach Trost“: Sternstunden für Schauspieler
Der deutsche Regisseur Thorsten Lensing, 1969 geboren, lässt sich für jede seiner Produktionen extrem viel Zeit: 2011 realisierte er Tschechows „Der Kirschgarten“, 2014 „Karamasow“ nach Fjodor Dostojewskij – und zuletzt, 2018, dramatisierte er den Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace. Mit von der Partie waren bei allen drei Inszenierungen Ursina Lardi, André Jung und Devid Striesow, der Hape-Kerkeling-Darsteller; Sebastian Blomberg stieg erst bei „Karamasow“ ein.
Für dieses Quartett entwickelte Lensing nun ein „Stück“, sein erstes eigenes. Aber anders als bei Thomas Bernhard, der für „Ritter, Dene, Voss“ den Schauspielern präzise Rollen auf die Leiber schrieb, entstand es in der Zusammenarbeit im Rahmen eines längeren Prozesses. Zudem erzählt Lensing in seiner „Stückentwicklung“ keine lineare Geschichte: „Verrückt nach Trost“, am Samstag bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, erinnert an die Herangehensweise von René Pollesch. Nicht ganz so irrwitzig, nicht ganz so abgehoben, aber reich an Assoziationsketten, Umwegen und Pointen. Selten hat man in den letzten Jahren im Theater derart auflachen können.
Wir spielen das Spiel!
Zentral sind das Spiel und die Lust am Spielen. Einer der ersten Sätze lautet denn auch: „Komm, wir spielen das Spiel!“ Unglücksrabe Felix animiert seine Schwester Charlotte, das liebevolle Verhalten der Eltern zueinander nachzuahmen. Sie macht mit, allerdings nicht mit rasender Begeisterung.
Wenn es um pures Spiel geht, braucht es kein Bühnenbild, das die Show stiehlt: Gordian Blumenthal und Ramun Capaul haben einfach eine massive Röhre aus Metallplatten, gut zwei Meter hoch, auf die Bühne gewuchtet. Sie bildet den harten Kontrast zum kunterbunten Treiben – und harmoniert hervorragend mit dem technisch-kühlen Interieur des Max Schlereth-Saals in Anthrazit (die Festspiele mussten, da das Landestheater renoviert wird, auf die Universität Mozarteum ausweichen).
Zu Beginn verbringen Felix und Charlotte einen Tag am Strand. Ihr streng durchritualisiertes Eltern-Spiel besteht aus Körper eincremen, Rücken massieren, Figur loben, sich Sorgen über die Kinder machen. Felix fordert immer mehr Szenen ein, aber Charlotte verweigert irgendwann: „Ich spiele das Spiel nicht mehr!“
Für ihn, den traurigen Clown, bricht eine Welt zusammen, da er nie über den frühen Tod der Eltern hinausgekommen ist; für die Schwester aber wird der Schlussstrich zur Befreiung: „Ohne Eltern sind wir keine Kinder mehr! Wir sind frei!“
Wenn es aber so einfach wäre! Charlotte muss ihrem unerfahrenen Bruder ein paar Tipps geben, wie man ein Mädchen anfasst und mit der Zunge küsst. Devid Striesow verhält sich – erwartbar – hinreißend tollpatschig; danach versucht er, ins Wasser zu hechten – und scheitert auf ganzer Linie an der riesigen Wellen-Röhre.
Wenig später liest Ursina Lardi eine Szene aus einem Buch vor, das ihre Charlotte gerade liest, und in der Sekunde kippen die Geschwister spielerisch in die Handlung hinein – zusammen mit einem Taucher, der eben ans Land gespült worden war.
Sebastian Blomberg verwandelt sich alsbald in eine Schildkröte (eine fulminante Bewegungsstudie!), André Jung gesellt sich als Orang-Utan dazu, der sich unter anderem die Sonnenmilch in den Mund spritzt. Diese Szenen, zum Teil absurd, zum Teil slapstickartig, immer geistreich, fließen mit großer Leichtigkeit ineinander über.
Worauf sie abzielen, wird aber erst nach der Pause klarer: Lensing dekliniert – ähnlich wie Woody Allen in „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen trauten“ – Spielarten der Zweierbeziehung durch. Der Gedichte rezitierende Taucher, quasi ein scheuer Einsiedlerkrebs, hat sich Trommelfelle durchstochen, um taub mit den Fischen kommunizieren zu können. Sebastian Blomberg hält dann einen Lichtbildervortrag über die Unterwasserwelt (mit Striesow als Falscher Clownfisch) und verliebt sich in eine Oktopus-Dame, die aus der Abbildung in die Bühnenwirklichkeit gleitet. Ihre Behauptung, alles spielen zu können, stellt Lardi auch gleich unter Beweis.
Staubtrockener Kuss
Und Felix, seit dem Tod der Eltern abgestumpft, geht, jede Erregung nur vorspielend, eine Beziehung mit Matthias ein, der seinen Ex-Partner belauscht – aus Sorge um dessen Gesundheit. Dieser Dialog zwischen Striesow und Jung, herzerwärmend amikal, besticht mit schonungsloser Ehrlichkeit wie mit unglaublichem Witz.
Der mit dreieinhalb Stunden zu lang geratene Abend ist da längst zur Nummernrevue mit Brüchen geworden. Als letztes Highlight gibt es eine herrliche Romanze mit staubtrockenem Kuss zwischen einer 88-jährigen Frau und ihrem Pflegeroboter. Wenn es einen solchen wirklich geben sollte, kann man der Zukunft getrost in die Augen blicken. Viel Jubel.
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