Unter die Räder Russlands gekommen: Vom großen Ganzen zum Einzelschicksal

Die Mächtigen nehmen, wenn es um das große Ganze geht, keine Rücksicht auf die Einzelnen. Das war früher so, das ist heute so. Das musste auch die Theaterkritikerin, Kuratorin und Autorin Marina Davydova erfahren. Sie wurde als Tochter eines Armeniers in Baku (heute Aserbaidschan) geboren, sprach russisch, war – wie so viele – nach Moskau hin ausgerichtet. Doch dann zerfiel die UdSSR, Nationalitätenkonflikte brachen aus.
1990 musste sie aufgrund der anti-armenischen Pogrome nach Russland fliehen. Der Krieg gegen die Ukraine machte ihr ein Bleiben unmöglich. Nun, in Berlin, befindet sich Davydova in einem fatalen Dilemma: „Ich bin eine Verräterin Russlands, in deren Kopf Passagen russischer Poesie herumschwirren.“ Diesen Satz, Teil eines Monologs, lässt sie von Marina Weis als Aufseherin im „Museum der ungezählten Stimmen“ sprechen. Damit endet nach zwei Stunden die Theaterinstallation „Museum of Uncounted Voices“, die als Auftragswerk des HAU (Hebbel am Ufer) am Montag bei den Festwochen im Odeon zur Uraufführung gelangte.
Doch bis dahin ist es ein weiter Weg durch die fünf Säle des Museums, von Zinovy Margolin als begehbare Guckkastenbühne im imperialen Stil eingerichtet. Davydova, die 2016 das Schauspielprogramm der Festwochen verantwortete und ab 2024 jenes der Salzburger Festspiele konzipieren wird, beginnt eben beim großen Ganzen: Anhand ausgewählter Insignien und weiterem Anschauungsmaterial erklärt eine männliche Stimme vom Band das Entstehen des Imperiums – beginnend mit dem Kiewer Rus. Damals gab es noch gar kein Moskau. Das Erodieren kann der Sprecher nicht akzeptieren: Er steigert sich in einen immer wahnsinniger werdenden Tonfall.
Im zweiten Saal werden fünf Nationen vorgestellt, die unter die Räder Russlands gekommen sind. Die Sprecher (nur Männer!) überbieten sich gegenseitig darin, welche das größere Opfer ist. Da wird das Zuhören mühsam. Aber das Finale, das Einzelschicksal, hat ungeheure Wucht.
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