Tino Sehgal und die Suche nach der Verzückungsspitze des Lebens
Dass eine wildfremde Person beim Museumsbesuch auf einen zukommt, den Sicherheitsabstand bricht, etwas zuflüstert – das ist in Zeiten der coronabedingt eingeübten Vorsicht fast schon skandalös.
Aber viele von Tino Sehgals Kunstwerken funktionieren genau so: Sie kommen ohne Requisiten und Materialien aus, werden einzig von Akteurinnen und Akteuren erzeugt, die entweder miteinander in Beziehung treten oder Besucherinnen und Besucher direkt einbinden.
„Wir hatten zuletzt ein Projekt in England, wo wir, wenn wir auf das Publikum zugegangen sind, noch mal die Maske aufgesetzt haben, auch als Zeichen des Respekts und als Beruhigung etwaiger Ängste“, sagt der Künstler, den der KURIER auf einer Zugreise am Telefon erreichte: Am Mittwoch fuhr er von Berlin nach Bologna, dann gleich weiter nach Melk. Dort wird Sehgal heute Abend die „Globart Academy“, das dreitägige Symposium zum Thema „Sinn“, eröffnen.
Nah und Fern
Vergangenes Jahr sprach der Medienkünstler und Theoretiker Peter Weibel an derselben Stelle – und beschwor die Vision einer via Telekommunikation vermittelten Fern-Gesellschaft auch im Bereich der Kultur herauf. Sehgal erscheint in vielerlei Hinsicht als Antithese dazu: Bei ihm geht es ständig um körperliche Präsenz und das Primat des Hier und Jetzt.
„Ich habe schon das Gefühl, dass jetzt noch mal mit einem neuen Blick auf meine Arbeit geschaut wird“, sagt Sehgal. „Ich denke, dass man sich stärker bewusst ist, dass menschliche Interaktion auch gefährdet sein kann und nicht selbstverständlich ist“. Mit seiner Weigerung, filmische oder fotografische Dokumentationen seiner Arbeiten zuzulassen oder selbst anzufertigen, bürstete er die auf materielle Relikte fixierte Kunstwelt oft gegen den Strich.
Dabei ist Sehgal kein grundsätzlicher Feind der Kommunikationstechnik: „Man muss nicht immer reisen, um sich zu treffen“, sagt er. „Aber man hat auch gemerkt: Eine Party auf Zoom funktioniert nicht. Doch die Verzückungsspitze des Lebens ist eher auf einer Party zu finden als in einem Businessmeeting.“
Slow Motion
Sehgals Werke erzeugen oft eine Atmosphäre geschärfter Aufmerksamkeit. In der Schau „Beethoven bewegt“ des Kunsthistorischen Museums (2020) „zoomte“ Sehgal einzelne Elemente aus Beethoven-Stücken hervor und übersetzte die Musik in Bewegungen einzelner Körperteile.
In anderen Arbeiten erscheinen zwischenmenschliche Aktionen in zeitlupenhafter Entschleunigung, mitunter tauchen Anleihen beim kunsthistorischen Kanon auf: Für ein Stück nahmen Personen etwa Positionen ein, die sich an den Kuss-Darstellungen von Klimt, Rodin oder Brancusi orientierten. Ausgeführt werden die Aktionen von einem Team, mit dem Sehgal nun schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet.
Das Programm, das bis Samstag jeweils von 10 – 18 Uhr im Melker Stiftsgarten geboten wird, wird sich dabei auch an der Architektur orientieren. Der barocke Rahmen scheint für Sehgals Ansatz so einiges herzugeben: Die gedrehten Figuren und sprechenden Gesten, die für die Skulptur des Barock typisch sind, scheinen mitunter nicht allzuweit entfernt von den Bewegungen, die der deutsch-britische Künstler bei seinen Akteuren choreografiert. Auch der fließende Übergang zwischen Malerei, Skulptur und Architektur zu Tanz und Theater wäre dem Barock nicht fremd.
Dauerhaft flüchtig
„Ich habe es immer als schlagend empfunden, dass in einem Museum die großen Meister nur ein, zwei Räume weit weg sind“, sagt Sehgal. „Man steht buchstäblich neben ihnen, und das eigene Werk muss versuchen, da mithalten zu können.“
Dass seine eigene Arbeit so sehr darauf beharrt, keine materiell dauerhafte Form anzunehmen, sieht Sehgal dabei nicht im Widerspruch zum Streben nach Dauer. „Natürlich ist sie fürs Museum geschaffen, sie kann überdauern, indem sie wiederholt wird“, erklärt er. Bei einer Ballett-Choreografie sei das nicht anders. Auch Sprache sei ja „nicht irgendwo konserviert“, sagt er: „Wir lernen das durch Weitergabe, von Mensch zu Mensch, von Körper zu Körper.“
Das Experiment, ohne materiellen Aufwand Kultur zu schaffen, leitet im Übrigen auch Sehgals Praxis an, nur mit dem Zug zu reisen. Dass der Künstler damit auch ökologisch agiert, wurde erst kürzlich medial thematisiert, als er sich 2020 an dem Projekt „Down to Earth“ im Berliner Gropiusbau beteiligte. Sehgal scheut aber davor zurück, seiner Arbeit eine Mission aufzudrücken. Die Wahrnehmung und Deutung der Kunst ist für ihn Sache des Publikums: „Der Nachhaltigkeitsaspekt lag immer offen, aber die Leute haben sich daran nicht bedient. Jetzt tun sie es.“
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