Peter Weibel: "Die Ideologie der Nähe ist am Ende"
Heute, Freitag, hält Peter Weibel den Festvortrag bei der „Globart Academy“, einem hochkarätigen Symposium, das heuer in Zwentendorf stattfindet. Als „Tribut an die historische Zäsur“, für die der nie aktivierte Reaktor steht, wollte Weibel aus Karlsruhe anreisen – nach Ankündigung des Lockdowns in Deutschland entschied er sich aber anders.
KURIER: Zuletzt haben Sie oft der Abkehr von der realen Präsenz das Wort geredet. Ist der Geist des Ortes nicht doch irgendwie relevant?
Peter Weibel: Es widerspricht sich nicht. Doch das Virus entfaltet seine Macht nur, wenn man sich nahe ist. Das habe ich als Signal dafür genommen, dass diese Gesellschaft der Nähe, die de facto eine Erfindung der letzten hundert Jahre ist, an ihr Ende gelangt. Für mich ist diese Ideologie der Nähe eine Erfindung der Industrie, um möglichst viele Menschen zusammenzubringen und möglichst viel daran zu verdienen. De facto ist das schon lange eine Illusion, die Wirtschaft ist schon weiter als die Ideologie. Bayern München hat beim Champions-League-Finale mehr als 100 Millionen Euro verdient, obwohl kein Besucher da war. Der Besuch im Stadion ist nur mehr ein nostalgischer Tribut an die Vergangenheit. Die Wirklichkeit ist schon lange in einer Ferngesellschaft, nur haben wir noch kein Bewusstsein davon.
Trotzdem drängt alles auf die Rückkehr zur Normalität.
Man gibt sich der Illusion hin, dass das vorbeigehen wird. Aber Aids ging nicht vorbei, Krebs ging nicht vorbei. Wir müssen uns daran gewöhnen, und das ist meine Warnung, dass wir in Zukunft diese Formen der Nähe, diese Massenveranstaltungen nicht mehr haben werden.
Solche Events sind gewiss wirtschaftsgetrieben – doch es gibt auch ein menschliches Bedürfnis danach.
Das darf ich relativieren: Das Bedürfnis nach Nähe war die längste Zeit auf Kleingruppen beschränkt. Die Leute gehen gern in die Bar oder ins Wirtshaus – aber das Bedürfnis zur Nähe in Massen ist ganz eindeutig eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Bücher, die den Begriff der Masse erfassten – die Psychologie der Massen von Gustave LeBon, der Aufstand der Massen von José Ortega y Gasset, Masse und Macht von Elias Canetti und so weiter – gibt es seit 100 Jahren. Von der Politik und den Parteiaufmärschen bis zu Rockkonzerten sieht man immer die gleichen Bilder, nämlich Massen, die jubeln. Das ist eine uns Menschen anerzogene Erfindung. Leute, die früher Musik gehört haben, waren froh, wenn sie das in kleineren Gruppen getan haben. Man hatte ja nicht die technischen Mittel für ein Stadionkonzert, nicht die Verstärker, nicht die Lautsprecher und Scheinwerfer.
Aber man hatte im antiken Rom ein Kolosseum. Und es gibt die Idee, dass eine Versammlung im Sinn der griechischen Agora ein zentrales Element der Demokratie ist.
Klarerweise hat man schon seinerzeit Dinge wie das Kolosseum für propagandistische Massenveranstaltungen gebaut – nicht für kommerzielle Zwecke, sondern für politische. Aber jetzt – und mein Vortrag heißt ja „Die Realität der Macht und die Macht der Realität“ – jetzt gibt es etwas Neues: Man kann diese Veranstaltungen nicht mehr machen! Für mich ist das menschlich eine Katastrophe, aber als Theoretiker fantastisch. Denn plötzlich hat die Realität viel größere Macht. Auch wenn wir jahrelang gesagt haben, die Massenmobilität und der Massentourismus sind gefährlich für die Natur und fürs Klima, dann hat das alles nichts gewirkt. Wir hatten kein Bewusstsein von Realität und haben einfach weitergemacht. Und jetzt kommt der Punkt, dass die Leute glauben, das wird wieder so sein. Aber Normalität heißt: Zurück zur Katastrophe.
Dennoch will ich das gemeinschaftliche Erleben von Kultur nicht abschreiben. Wie Autor Philipp Blom im KURIER sagte, gehört zum Erfolg eines guten Lebens ein kulturelles Leben dazu.
Da hat er vollkommen recht. Die Frage ist, muss ich das durch Nähe haben? Ich sage ja nur: Die Nahformen werden weniger, die Fernformen nehmen zu. Ich selbst habe mir schon als Kind Bücher bestellt, bin aufgewachsen mit Kultur aus Fernbedienung, und das hat mein Leben enorm bereichert. Ich wäre in der Provinz verkommen, hätte ich nicht diese Kulturzugehörigkeit gehabt. Aber ich bin nie zu den Rolling Stones gegangen, mir hat die Platte genügt.
Welche Kunstformen haben Ihrer Einschätzung nach das Potenzial, die aktuelle Lage zu erfassen, aber auch Erlebnisse herzustellen, die die Gesellschaft jetzt braucht?
Die Fernkommunikation hat sich im Kino schon relativ gut durchgesetzt, ebenso in der Musik, die man zunehmend online hört. Klarerweise werden die Menschen weiterhin ins Museum gehen – aber das Museum wird digitale Dependancen machen. Darauf werden sich die Künstler einstellen – sie werden etwas anbieten und sagen: Du kannst hier live etwas erleben, aber gleichzeitig kannst du, wenn du nicht vor Ort bist, auch etwas erleben. Diese Kunstformen werden erst geschaffen. Man muss nur die Türe dafür aufmachen.
Zuletzt waren fast alle spektakulären Bauten Museen oder Konzerthäuser, es gab ein Schneller, Höher, Weiter. Es liegt nahe, dass das jetzt an Bedeutung verliert.
Man muss davon ausgehen, dass das Monumentale nach wie vor attraktiv ist. Ich halte aber die Wahrscheinlichkeit für groß, dass Neubauten wie die Elbphilharmonie durch die neuen Besucherregelungen, die noch für lange Zeit bleiben werden, in eine Krise geraten – wie seinerzeit die Hollywoodstudios, die Ben Hur und all diese Filme gemacht haben.
Sie selbst haben Ihre Retrospektive 2019 als Krankenhaus gestaltet – mit „Objektbefunden“ statt Objektbeschriftungen und Aufsichtspersonal in weißen Mänteln. Gibt es in Ihrer Krankenhauswelt auch Hoffnung?
Meine Hoffnung ist, dass wir Grundvoraussetzungen ändern werden. Wir haben einen Menschenbegriff und einen Individualismusbegriff, der 500 Jahre alt ist. Man hat es sich einfach gemacht, Tiere und Maschinen als Nichtmenschen abzustempeln. Doch wenn jemand einen Herzschrittmacher hat, ist er dann weniger Mensch, weil er eine Maschine im Herzen hat? Wir müssen uns also fragen: Wie weit müssen wir uns öffnen, um den Menschen als solchen zu retten? Die Hoffnung ist die, dass wir den menschlichen Begriff erweitern und keine Angst haben vor den Maschinen, die wir selbst bauen – und auch nicht vor den Tieren. Durch diese Pandemie – und auch Krankheiten wie der Vogelgrippe davor – merken wir: Wir haben ein falsches Verhältnis zu den Tieren und der Natur, und wir könnten durch die Macht der Realität gezwungen werden, umzudenken. In diesem Sinn bin ich optimistisch.
Zur Person
Peter Weibel (*1944) ist Künstler und Theoretiker. In den 1960ern wurde er mit Kunstaktionen, teils mit VALIE EXPORT, bekannt. Bald wandte er sich der Film- und Medienkunst zu, gründete die Band „Hotel Morphila Orchester“ und befasste sich mit digitalen Medien. Er lehrte u. a. an der Universität für angewandte Kunst Wien, seit 1999 ist er Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe.
Das Symposium
Die „Globart Academy“ findet heuer im Reaktor des Kraftwerks Zwentendorf statt. Peter Weibel wird heute, Freitag, um 18 Uhr zugeschaltet. Am Samstag diskutieren u. a. Ministerin Leonore Gewessler, Literat Ilja Trojanow und andere zu Zukunftsperspektiven rund ums Thema „Macht“. Aufgrund der stark limitierten Besucherzahl ist der Live-Event ausverkauft, es gibt jedoch Digital-Tickets zur Fernteilnahme (10 €)
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