Historiker Philipp Blom: "Die bürgerliche Kultur verblasst"
Für die Kultur ist die Corona-Krise ein beinharter Realitycheck: Kaum je wurde, auch in der Branche, so unverhohlen debattiert, wie wichtig sie ist, ja, ob sie jetzt überhaupt wichtig ist. Der KURIER sprach mit dem Historiker Philipp Blom über den Nutzen von Kultur für den Menschen in und nach der Krise.
KURIER: Die Kultur war in der Corona-Krise zumindest am Anfang völlig außen vor. Das hat mich überrascht.
Philipp Blom: Es sagt doch etwas über uns aus, dass wir kulturelle Ereignisse weniger als identitätsstiftend ansehen als die Generationen vor uns. Die sagten: Wir brauchen Kultur, um zu wissen, wer wir sind, und warum wir leben, warum wir eigentlich hier sind. Um uns diese Fragen zu stellen oder zurückspiegeln zu lassen.
Was bedeutet das?
Kultur ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig. Denn eine Gesellschaft ist ja nicht nur ein Haufen von Menschen, die zufällig an einem Platz leben, Geld verdienen und Steuern zahlen. Sondern eine Gesellschaft hat ja ein gewisses Ethos, das sie tragen soll. Das wird durch Kunst besonders stark gespiegelt. Und zwar so, dass man kein universitärer Experte sein muss, um daran teilzunehmen. Sondern so, dass es einen berührt.
Also braucht man Kultur doch, auch wenn Krise herrscht und anderes wichtiger scheint?
Man kann einige Monate auf Kultur verzichten, auf Theater und vielleicht sogar auf Museen. Aber wir werden dadurch ärmer.
Was aber verliert die Gesellschaft? Würde sie ohne Theater, Museen, Oper spürbar verrohen?
Die Kultur steht ja auch in „normalen“ Zeiten weiter am Rand als früher. Die bürgerliche Kultur verblasst. Die jetzige Pandemie trifft im Gegensatz zu früheren auf eine völlig veränderte Gesellschaft. Man kann heute durchaus in der Mittelschicht erfolgreich sein, ohne sich mit Bach oder Beethoven auszukennen oder je einen Fuß ins Theater gesetzt zu haben. Ist das ein Abwerfen von unnützem Ballast? Ich glaube, diese Kultur hat uns noch eine Menge zu sagen. Und dass man den Erfolg einer Gesellschaft nicht daran messen kann, wie viel Geld wir verdienen.
Philipp Blom:
Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Geschichte in Wien und Oxford. Seit 2006 lebt er in Wien als Historiker, Philosoph und Autor
Werke:
In seinem Buch „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ beschrieb Blom die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine radikaler Veränderungen und großer Umbrüche – und wurde weltweit bekannt. In „Die zerrissenen Jahre“ behandelte er u. a. die 1920er-Jahre. 2018 hielt er die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele
Ein durchaus beliebtes Kriterium, bei dem die Kultur natürlich schlecht aussieht.
Wenn das eine erfolgreiche Gesellschaft ist, muss mir jemand erklären, warum immer mehr Menschen Antidepressiva brauchen, mehr alte Menschen einsam sind und junge Leute sich ritzen. Wir leben offensichtlich nicht nach jedem Kriterium in der erfolgreichsten Gesellschaft, die wir je gehabt haben.
Wo klinkt sich die Kultur da in die Rechnung ein?
Zum Erfolg eines guten Lebens, was eigentlich ein viel interessanteres Problem wäre, gehört so etwas wie ein kulturelles Leben dazu. Nicht als bürgerliche Verpflichtung, sondern als persönliche Bereicherung. Und auch als Moment des Gemeinschaftsbildens. Es zeigte sich aber zuletzt, dass der Kultur nicht nur von der Politik, sondern auch von denjenigen, die auf die Politik Druck ausüben können, viel weniger Bedeutung zugesprochen wird.
Also: Hin zur Kultur?
Es ist eine bewusste, eigenverantwortliche Entscheidung, zu einem Konzert zu gehen. Da könnte man auch noch erweiterte Systeme schaffen, wie einen Test innerhalb von drei Tagen vor der Veranstaltung, den man auf dem Handy mitführt. Das alles ist keine absolute Versicherung gegen eine Infektion. Aber es macht ein kulturelles Leben weiter möglich. Und wenn alle Menschen vorsichtig sind und die Programme angepasst sind, ist das Risiko nach dem, was Experten sagen, tatsächlich sehr gering.
Nach den grippalen Seuchen in den 50er- und 60er-Jahren kamen ausgerechnet sehr körperbetonte, auf Nähe ausgerichtete Kulturformen auf: In den 50ern der Rock ’n’ Roll, in den 60ern die Hippie-Zeit. Kommt nach der Corona-Distanz vielleicht auch eine Gegenbewegung, ein kulturelles Aufblühen?
Das ist zu hoffen! Es ist noch ganz schwer abzuschätzen, was die Nachwirkungen der Krise sein werden. Natürlich wird sie etwas verändern – auch in unserer Wahrnehmung von Kultur und Gesellschaft. Wir haben immer zu hören bekommen: Für den Hyperkapitalismus muss die Maschine laufen, auch wenn es schrecklich schade ist, dass sie dabei den Planeten und unsere Lebensgrundlage zerstört. Da könne man nun mal leider nichts ändern. Und dann ist diese Veränderung einfach passiert.
Was lässt sich da lernen?
Das war krisenhaft und wird riesige wirtschaftliche Folgen haben. Aber es hat gezeigt, dass die Möglichkeit für eine Gesellschaft besteht, selbst zu entscheiden, was wichtig ist. Dieser Präzedenzfall wird nicht weggehen. Und das heißt natürlich auch: Kultur kann sich wunderbar eignen, eine Gemeinschaft wiederherzustellen und diese mit neuen Bildern zu füllen. Und neu darüber nachzudenken, was wir eigentlich in einer Gesellschaft wollen.
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