Regisseur Ulrich Seidl: "Natürlich ist das alles eine massive Rufschädigung"
Lange, bevor man Ulrich Seidls Film „Sparta“ sehen konnte, hatte man schon viel darüber gehört: Er handelt von einem Mann, gespielt von Georg Friedrich, der in Rumänien eine Judoschule für Buben einrichtet und dabei seine pädophilen Neigungen entdeckt. Dann erhob der Spiegel massive Vorwürfe gegenüber dem österreichischen Regisseur. Er soll demnach beim Dreh mit den Kindern in Rumänien deren Eltern nicht umfassend über den Inhalt des Filmes informiert und zudem die Kinder nicht ausreichend kompetent betreut haben. Ulrich Seidl wies diese Vorwürfe zurück.
Nun wird „Sparta“ auf der Viennale gezeigt (Österreich-Premiere am Freitagabend). Behutsam zeichnet der Film das Bild eines gequälten Mannes, der im Kampf mit seiner Pädophilie einen Grenzgang zwischen Begehren und Gewissen antritt.
Der KURIER traf Ulrich Seidl vor der Premiere: „Haben Sie den Film eh gesehen?“, fragt der Regisseur vor Interviewbeginn.
KURIER: Ja, es war eine schwierige Sehaufgabe. Man sitzt in dem Film und hat die schweren Vorwürfe im Kopf. Können Sie den Kinobesuchern garantieren, dass in diesem Film wirklich mit den Buben keine Grenzen überschritten wurden?
Ulrich Seidl: Ich halte das nicht für notwendig. Dafür müsste doch jemand übernehmen, diese Grenzen festzulegen. Grenzen sind bei jedem Menschen anders. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, Menschen vor der Kamera – ob Kind oder Erwachsener – gerecht zu werden. Das war hier der Fall. Die beteiligten Familien, Eltern und Kinder, haben den Film gesehen, sie waren beim Dreh dabei. Diese Familien haben keine Einwände gegen den Film und gegen die Produktionsbedingungen. Das haben sie uns zwischenzeitlich auch schriftlich bestätigt. Zudem halte ich das Publikum für ein mündiges Publikum. Der Film spricht für sich. Er braucht nicht vorweg eine Ansage oder eine Warnung, wie das beim Toronto Filmfestival schon im Katalog der Fall war. Dadurch sieht man den Film mit anderen Augen, das finde ich nicht richtig.
Aber hier geht es ja nicht um eine jener „Content Warnings“, die an den Unis oder auch im Theater immer häufiger werden. Man sieht den Film ja nicht unvoreingenommen. Man hat etwas über diesen Film gelesen und kann dadurch als mündiger Kinogeher beunruhigt sein.
Ich bin zuversichtlich, dass der Film die Kraft hat, dies aufzulösen.
Aber der Film kann ja nicht die Frage beantworten, ob beim Dreh alles so vor sich gegangen ist, wie man sich das als Kinogeher wünschen würde.
Deswegen sitzen wir jetzt in diesem Interview. Ich bin ja hier, um Auskunft zu geben, dass diese Vorwürfe nicht stimmen.
Warum gibt es diese Vorwürfe, wenn sie nicht stimmen?
Das würde ich auch gerne wissen. Ich habe mir, bis auf ein paar Dinge, die ich leider tatsächlich vernachlässigt habe und über die ich gerne reden kann, nichts zuschulden kommen lassen. Ich habe diese Dreharbeiten verantwortungsvoll abgewickelt, mit den Darstellern, mit den Eltern, mit den Kindern. Und alle angeblichen Vorwürfe und Anschuldigungen kommen von anonymen Menschen.
Was im Journalismus normal ist.
Es ist für mich nicht normal, dass man eine Geschichte auf anonymen Beschuldigungen aufbaut, für die sich keine Beweise finden lassen. Wenn man die Wahrheit wissen will, hätte man mich oder all meine anderen Mitarbeitern ja auch mal fragen können in all den Monaten der Recherche. Man hat aber nur die eine Seite befragt. Menschen, die u.a. nur ein paar Tage mitgearbeitet haben, nicht direkt am Set zugelassen waren und aus Teileinblicken eine Wahrheit zusammenspekuliert haben.
Sie werfen dem Spiegel vor, dass er unseriös gearbeitet hat?
Ich werfe den Journalisten vor, dass sie nicht verantwortungsvoll genug gearbeitet haben. Das war sehr grenzwertig. So hat eine rumänische Journalistin einer Mutter gesagt, sie soll sich mit anderen Eltern zusammentun, gerichtlich gegen mich vorgehen – und sie zahlt den Anwalt. Eine andere Mutter hat etwa erzählt, dass man in den Raum gestellt hätte, Fotos oder Ausschnitte aus dem Film würden auf Pornoseiten landen.
Ein Filmdreh mit Kindern braucht noch schärfere Maßstäbe, da muss man doch noch genauer wissen, was man tut – und wie man sich absichert, das alles dokumentiert und auch belegen kann: Es ist diesen Kindern nichts Böses passiert.
Es ist diesen Kindern auch nichts Böses passiert! Natürlich weiß ich, dass ein Dreh mit Kindern immer heikel ist. Deswegen sind wir auch mit aller Sorgfalt damit umgegangen. Dass alltägliche Dinge passieren, ist klar, wir haben ja auch über Monate gedreht: Dass ein Kind krank wird, ein Kind einmal speibt. Aber daraus kann man ja nicht schließen, dass das eine unmittelbare Reaktion auf eine gedrehte Szene ist. Man muss sich schon fragen, was da dahintersteckt. Ich greife ja nicht den Journalismus grundsätzlich an, vor allem, wenn er an Wahrheitsfindung interessiert ist, überhaupt nicht! Der ganze Film wurde ja sogar durch eine Zeitungsreportage inspiriert. Aber in diesem Fall kann ich es leider nicht anders sehen, als dass der Wunsch nach einer Skandalgeschichte eine Rolle gespielt hat.
Ihre Arbeitsweise ist berühmt, es gibt keine vorgefassten Dialoge, vieles entsteht aus Improvisation.
Ja, aber nur in einem bestimmten Rahmen. Es gibt ein sehr genaues Drehbuch, wo Szenen detailliert beschrieben sind, aber es gibt eben keine geschriebenen Dialoge. Improvisation bedeutet, dass man Darsteller finden muss – ob das ein Laie ist, ein Schauspieler, ein Kind, oder ein Erwachsener, spielt keine Rolle -, die das auch können. Sie müssen vor der Kamera natürlich sein können, frei sein, ohne gekünstelt zu sein. Dafür gibt es einen monatelangen Prozess, während dem ich meine Darsteller suche und kennenlerne.
In der Filmbranche gibt es derzeit, Stichwort Intimitätskoordinatoren, einen Umbruch, es wird mehr Kontrolle bei heiklen Szenen gefordert. Kann man überhaupt noch so arbeiten wie Sie?
Der Unterschied liegt doch darin, ob man glaubt, so etwas zu brauchen oder nicht. Manchmal braucht man als Regisseur oder als Schauspieler Hilfe. Dafür gibt es Stuntleute oder auch Intimacy-Koordinatoren. Das ist gut und richtig. Aber ich finde nicht, dass man solche Dinge vorschreiben sollte. Ich habe schon so viele Sexszenen gedreht, und da gab es niemanden, der gesagt hätte, ich brauche jetzt jemanden, um mich sicherer zu fühlen. Ich besetze nur jemanden, von dem ich weiß, dass diese Frau, dieser Mann auch bereit ist, sich darauf einzulassen. Wie bei Margarethe Tiesel in „Paradies: Liebe“.
Aber die Frau Tiesel ist eine gestandene Schauspielerin und Frau. Können elf-, zwölf, vierzehnjährige rumänische Buben da informiert entscheiden?
Das entscheiden die Eltern. Außerdem wir haben ja überhaupt keine sexualisierten Szenen mit Kindern gedreht.
Haben die Eltern jeder Szene zugestimmt?
Sie haben der Handlung, dem, was wir planen konnten, zugestimmt. Aber natürlich ist nicht jede Szene im Einzelnen exakt so abgefragt worden, so kann man auch keinen Film machen.
Warum nicht?
Ein Film ist nicht etwas, wo jeder mitredet, wie man etwas wann wo am besten machen soll. Es gibt eine Zusammenarbeit von vielen verschiedenen Menschen, die verschiedene Kompetenzen haben, wie in vielen anderen Institutionen auch.
Die Kinder haben bei Ihrem Film für dortige Verhältnisse gutes Geld verdient, die hatten jede Motivation, weiter mitzumachen.
Die haben zunächst einmal Spaß gehabt, wie die Kinder auch selbst berichten. Geld haben sie auch verdient. Aber für sie war die Drehzeit wie bei einem Feriencamp, in dem sie den ganzen Tag betreut und verpflegt worden sind und nichts anderes als Spaß gehabt haben. Wenn Sie die Verhältnisse dort kennen würden, würden Sie auch sehen, was das für ein Unterschied ist. Zuhause müssen sie hart arbeiten, bereits als Sechs- und Siebenjährige. Hätte ein Kind gesagt, es will nicht dabei sein, wäre es nicht dabei gewesen. Wäre was passiert, wären die Eltern eingeschritten. Die sind ja keine anderen Eltern als Sie und ich, oder? Sie können mir und dem Filmteam glauben, dass wir verantwortungsvoll sind, bei dem, was wir tun.
Der Job des Journalisten ist halt nachzufragen, nicht zu glauben.
Genau deswegen hätte ich es ja begrüßt, wenn die Journalisten mein Team und mich bereits früher im Rahmen der Recherchen mit einbezogen hätten. Alles, was hier im Raum steht, ist ja nicht von den ständigen Teammitgliedern gekommen, die mich und meine Arbeitsweise, kennen, sondern meiner Vermutung nach von ein paar Menschen, die nur ganz kurz bei der Produktion dabei waren. Wenige Tage.
In „Sparta“ richtet sich der Blick auf einen Mann, der mit pädophilen Neigungen kämpft. Ein spannendes Merkmal Ihres Films ist es, dass Sie Ihre Figur nicht moralisch verurteilen, wie Sie es übrigens auch sonst nie in Ihren Filmen machen.
Es ist mir immer wichtig, nicht zu urteilen, aber bei dieser Figur ist es mir besonders wichtig – sonst hätte mich dieses Thema auch nicht interessiert. Eine Geschichte über jemanden zu erzählen, der seine Sexualität missbräuchlich einsetzt – was erreicht man damit? Aber einen Menschen zu zeigen, der unter seiner Bestimmung leidet und der eigentlich nur ein normales Leben führen will, das er nicht führen kann – ihn so zu präsentieren, dass der Zuseher seinen Zustand mit Empathie verstehen kann und ihn nicht sofort verurteilt, war mir sehr wichtig
Diese Sehnsucht nach Kindheit, die sich vielleicht auch gar nicht unbedingt in sexuellen Handlungen manifestiert – war das etwas, was Sie von Anfang an interessiert hat? Oder hat sich das erst im Lauf der Dreharbeiten so entwickelt?
Nein, das hat mich von Anfang an interessiert. Wir haben bei der Entwicklung dieser Figur so viel wie möglich recherchiert. In Berlin in der Charité gibt es eine Abteilung, die sich speziell um pädophile Menschen kümmert. Das Spektrum ist sehr groß: Es gibt Pädophile, die nicht Täter werden. Aber man weiß: Pädophilie ist nicht heilbar. Für die Betroffenen ist das schrecklich, weil sie wissen, dass sie kein normales Leben führen können. Wir haben Georg Friedrich jemand zur Verfügung gestellt, der diese Bestimmung hat und mit dem er sich treffen konnte und ausgetauscht hat, um ein Gefühl dafür zu bekommen.
Haben Sie Sorge, dass die Vorwürfe rund um Ihren Film die Finanzierung Ihres nächsten Projekts gefährden könnten?
Natürlich ist das alles eine massive Rufschädigung, das ist überhaupt gar keine Frage. Und letztendlich wird auch viel von meiner gesamten Arbeit in Misskredit gebracht. Aber im Grunde genommen werde ich jetzt nicht meine Arbeitsmethode an und für sich verändern. Man muss vielleicht noch umsichtiger werden, was Kommunikation betrifft, aber meine Methode führt ja auch zu künstlerisch hochwertigen Filmen, wenn ich das so sagen darf. Und für die Anschuldigungen, die der Spiegel erhoben hat, gibt es noch immer keine Beweise.
Hans-Michael Rehberg spielt den dementen Vater im Altenheim, der sich mit alten Nazi-Liedern und einem Schubert-Lied seiner eigenen Identität versichert. Eine zentrale Szene mit ihm kommt sowohl in „Rimini“ als auch in „Sparta“ vor. Warum diese Entscheidung? Ging es darum, über die Vaterfigur die beiden Filmteile zusammenzufügen oder darum, die zentrale Bedeutung dieser Figur zu betonen?
Beides. Der Vater findet in beiden Filmen mit unterschiedlichen Szenen statt. Der Sohn Ewald (Georg Friedrich) hat ein anderes Verhältnis zu ihm als der Schlagersängersohn Richie Bravo. Ewald hat ein sehr zärtliches Verhältnis zu seinem Vater. Dieselbe Szene kommt in beiden Filmen als Klammerfunktion vor und funktioniert gut. Man wird mit ihr aus dem Kino entlassen, obwohl es in „Sparta“ ja nicht die ganz letzte Szene ist. Dort sieht man noch, wie Ewald die nächste Schule für Kinder gründet.
Dieses Ende war ziemlich unheimlich. Man hat das Gefühl, dass die Figur des Ewald einiges dazu gelernt hat und beim nächsten Mal gezielter vorgehen kann. Das könnte dann viel schlimmer ausgehen, oder?
Das weiß ich nicht. (lacht) Aber es stimmt: Man weiß, es geht weiter. Es hört nicht auf.
Sie gehen mit Ihren Filmen seit vielen Jahren gerne und mit Lust und viel Gewinn an Grenzen. Jetzt stand zur Debatte, dass vielleicht eine Grenze in Hinblick auf den Umgang mit Kindern überschritten worden sein könnte. Hätte man das nicht zum Anlass nehmen können, darüber konstruktiv zu reden anstatt wochenlang zu schweigen?
Ich habe ehrlich gesagt im ersten Moment jede Menge zu tun gehabt, diese Anschuldigungen überhaupt zu überprüfen. Ich musste erst einmal selbst nachrecherchieren und versuchen, die Wahrheit zu rekonstruieren. Ich habe ein Statement herausgegeben, wo ich grundsätzlich festgehalten habe, dass ich mir keiner Schuld bewusst bin. Dann habe ich angefangen, mich um die Eltern der Kinderdarsteller zu kümmern und nachzugehen, was tatsächlich passiert ist. Damit war ich beschäftigt. Und jetzt nehme ich dazu Stellung.
Aber wäre es nicht ein interessanter Prozess gewesen, wenn Sie Ihre eigenen Bemühungen, die Wahrheit hinter den Anschuldigungen zu finden, offengelegt hätten? So blieb nur der „Ich habe alles richtig gemacht“-Gestus übrig.
Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, was diese Anschuldigungen für mich bedeutet haben und immer noch bedeuten. Ich muss mit Vorverurteilungen und Vorurteilen zurechtkommen, sie verstehen und mich dagegen wehren: Man cancelt einen Film, obwohl es keinen Beweis dafür gibt, dass die Vorhaltungen, die in den Raum gestellt werden, auch wirklich wahr sind.
Der Film wurde in San Sebastian gezeigt, er läuft auf der Viennale, es erscheinen Interviews mit Ihnen zu diesem Film – das ist doch nicht canceln?
Das kann man aus heutiger Sicht sagen. Aber damals, als das Filmfestival in Toronto den Film abgesetzt hat, ist es durch alle Medien und durch die ganze Welt gegangen: An dem Film muss etwas nicht stimmen, denn Toronto hat ihn aus dem Programm genommen. Das ist canceln, oder?
Wenn man sagt, der Film hat vielleicht ein Problem und wir schauen uns das an, ist das doch weder Canceln noch eine Vorverurteilung.
Die bisher erschienene Berichterstattung liegt da etwas anderes nahe. Es gab doch sogar den Ruf, Fördermitteln zurückzahlen zu müssen. Außerdem es geht ja nicht nur um den Film, sondern um meine Person – und zwar in Form einer massiven Schädigung meiner Reputation, und es ist auch eine massive finanzielle Schädigung. In Deutschland wurde „Rimini“ vor zwei Wochen gestartet. Alle Kritiken haben zu einem Drittel von „Rimini“ gehandelt, zu zwei Drittel von „Sparta“ und den im Raum stehenden Vorwürfen. Da ist man weit weg von der Möglichkeit, etwas vernünftig diskutieren zu können.
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