Peter Handke im Interview: „Meine Freunde sind die Unbekannten“
Peter Handke hatte sich breitschlagen lassen. Ich übernachtete bei Eva-Maria, einer Schulfreundin, in Grosrouvre, 30 Kilometer hinter Versailles – und damit gar nicht weit entfernt von Chaville, wo Handke wohnt. Er sei aber jetzt nicht in Chaville, sagte Handke vormittags am Telefon, sondern in der Picardie. Dort hat er zusammen mit Sophie Semin, seiner Frau, ein altes Haus.
Kein Problem, sagte ich. Ich könne mit dem Leihwagen auch in die Picardie, nördlich von Paris, kommen. Handke verstummte kurz. Er käme dem lästigen Journalisten doch nicht aus. Eine halbe Stunde später, beim nächsten Telefonat, stand der Plan: Er würde vom Haus zur Restauration eines Golfplatzes gehen, gegen zwei eintreffen, wir könnten gemeinsam essen. Und ich könne gerne meine Schulfreundin mitbringen, die der Liebe wegen nach Frankreich gegangen war.
Als wir auf dem Golfplatz bei Ivry-le-Temple eintrafen, saß Handke schon auf der Terrasse, den Blick gegen Süden gerichtet. Er schien zufrieden und entspannt, zeigte sogleich auf die unscheinbare Erhebung in der Ferne. „Vor uns ist das Plateau des Vexin, immerhin 60 Meter über der Ebene. Ich finde den Hügel sehr schön, manchmal. Er ist der einzige Ort in der ganzen Gegend, wo es Schwarzbeeren oder – wie sagt man? – Heidelbeeren gibt.“
Der Esel an der Landstraße
Er trug ein schwarzes Gilet über einem weißen Hemd, vor ihm ein Kir. Wie die Fahrt gewesen sei, fragte er freundlich. Wir seien, sagte ich, durch kleine Ortschaften gefahren. Handke wollte mir nicht glauben. Denn der direkte Weg wäre über Paris gegangen. Ich hatte jedoch der Périphérique Nord misstraut, auf der man mitunter heillos im Stau steckt. Wir erzählten, am Straßenrand einen Esel gesehen zu haben. Ihn ließ Handke als Beweis gelten.
Auch er war – ich verwendete unbedacht das Wort „Spaziergang“ – über die Landstraße gekommen: „Es gibt viele andere Wege. Aber inzwischen ist mir die Natur nicht mehr so erstrebenswert wie früher. Ich gehe gerne am Rand der Straßen, vor allem wenn sie wenig befahren sind.“ Und: „Ich war gern unterwegs – so bin ich zwischendurch rückwärts gegangen. Rückwärtsgehen ist ein Lebenszeichen.“
Die Kellnerin bringt die Speisekarte, wir studieren, Handke fragt nach unseren Wünschen und ordert. Schinken und Käse, eine Flasche Rosé, danach Salade César. Es verstehe sich von selbst, dass der KURIER die Rechnung begleicht, sage ich. Aber Peter Handke erwidert erbost: „Nein, kein Journalist wird für mich die Rechnung zahlen.“ Kurzes Schweigen. „Ich habe keine Lust, einen Streit anzufangen.“ Also gut.
„Ich bin dankbar, dass Ihre Frau ein gutes Wort für mich eingelegt hat“, sage ich. Sophie Semin ist Schauspielerin, ich durfte mit ihr im Sommer 2020 ein Interview führen. „Ich hab’ sie eh verflucht“, sagt er. „Sie noch nicht, aber meine Frau. ,Kannst du mich nicht in Ruh’ lassen mit diesen … Arschlöchern?‘ Nein, das hab’ ich nicht gesagt, nicht einmal gedacht.“
Ja, die Journalisten! „Dreisilbige Wörter sind zu lang für die Zeitung“, sagt Handke einmal zwischendurch. Mir kann er zwar nicht vorwerfen, keines seiner Bücher gelesen zu haben. Ganz geheuer bin ich ihm trotzdem nicht. „Ist der immer so?“, fragte Handke einmal schelmisch meine Schulfreundin, als ich eine seiner Meinung nach aufdringliche Frage gestellt hatte. Er machte sich Eva-Maria zu seiner Komplizin. Das war eine glückliche Fügung.
Wir reden zunächst über das Haus in Chaville – und jenes in der Picardie. Zudem besucht Handke seine Frau oft in Paris. Ist das nicht kompliziert? „Es gibt einen schönen Spruch aus einem Film von Éric Rhomer: ,Wer zwei Häuser hat, verliert den Verstand‘“, sagt Handke. „Aber vielleicht geht es mit drei Häusern schon wieder besser, wie es vielleicht auch mit drei Frauen besser ist als mit zweien?“
Wo er lieber sei? „Lieber linker Schuh oder lieber rechter Schuh? Ich weiß es nicht. Wenn ich dann da oder dort bin, bin ich mit der Zeit meistens gern da oder dort. Aber ich hänge an nichts mehr, und es zieht mich nirgends hin.“ Weder in den Karst, noch nach Alaska. Ob Handke, der immerzu Reisende, überhaupt sesshaft werden kann? „Auf eine Weise bin ich schon sesshaft – in Chaville. Und auch hier.“
Chaville sei eine versteckte Stadt am Rand der Städte: „Sèvres, Clamart und Meudon gehören zu Paris, Viroflay gehört zu Versailles. Aber wo ich bin: Das gehört zu niemandem. Das hab’ ich nicht gewusst, aber allmählich ist mir das aufgegangen. Die Wälder sind viel schöner als hier, nicht so verwahrlost und verstruppt.“ Andererseits: „Sophie und ich, wir sind jetzt Großeltern.“ Das Haus in der Picardie sei sehr schön für Kinder: „Oben eine Obstterrasse. Der Bürgermeister von Griffen hat mir zu einem Geburtstag einen Spalierbaum gebracht, der trägt gut Äpfel. Und der Garten vor dem Haus ist wie eine Schanze. Man schaut 20 Kilometer in Richtung Norden, in Richtung Beauvais, und könnte beinahe wegfliegen.“
Ein Tag des Schneiens
Das verwunschene Haus hat er zusammen mit Sophie und Tochter Léocadie gefunden: „Es war ein Tag des Schneiens im November. Vielleicht hat das Schneien dazu geführt, dass wir das Haus gekauft haben. Denn es schneit ja nicht sehr oft hier, vor allem nicht in den letzten Jahren. Und so sind wir halt da. Vorhin beim Gehen hab’ ich mir gedacht: Warum nicht hier leben?“
Aber man muss zumindest zwei, drei Kilometer ins nächste Dorf mit Bar und Geschäft gehen. Und mit dem Älterwerden … „Früher hab’ ich viel gemacht, Rasen mähen oder Baum schneiden. Aber das bringt mir keine richtige Freude mehr, jetzt lass ich lieber andere tun. Obwohl ich es nicht schaffe, andere tun zu lassen.“ Handke wird im Dezember 79. Natürlich mache er sich Gedanken darüber, wie es weitergeht. „Aber es kommt eh nix raus, wenn man sich Gedanken macht. Die müssen selber kommen.“ Wenn er, frage ich, durch die Gegend laufe?
Das Wort „laufen“ kann Handke gar nicht vertragen. Denn die Deutschen sagen „laufen“ zu „gehen“. „Ich spaziere auch nicht, ich gehe. Ich gehe gern ein bisschen bergauf, aber ohne bergzusteigen. Das tut dem Herzen gut. Laufen ist Laufen und Gehen ist Gehen und Rennen ist Rennen, Zickzackgehen ist Zickzackgehen und Rückwärtsgehen ist Rückwärtsgehen. Das war jetzt mein Gedicht des Tages.“
Handke schimpft ein wenig über die Medien und die „Pseudo-Leser“, die „Blätterer“. Er erwähnt, dass er gerade seine Notizbücher exzerpiere und rhythmisiere: „Um auch Rechenschaft zu geben über das, was war. Es gibt doch immer weniger, was einen so anfliegt an Bildern und Kleinigkeiten, die aber nie Kleinigkeiten sind, sondern Nuancen und Variationen.“ Und in der Sekunde relativiert Handke wieder. Denn es gäbe „dermaßen viele Nuancen von immer dem gleichen Scheißdreck“.
Die Platte mit Schinken, Käse, Salami, Essiggurkerln steht auf dem Tisch. „Guten Appetit!“, sagt Handke. „Ich hab’ heut noch nix gegessen. Ich fang immer später zu essen an. Und dann schmeckt’s mir auch.“
Nach getaner Schreibarbeit geht Handke bekanntlich gerne in ein Lokal. Er wirft zwar ein: „Sie idealisieren mich! Den Großteil der Zeit schreibe ich nicht.“ Aber er bestätigt auch: „Ich seh’ gern Unbekannte. Meine Freunde sind die Unbekannten. Ich bin auch viel sozialer als früher. Ich hab’ überhaupt keine Probleme mehr, mit Leuten zu reden. Ich spüre, wenn jemand das mag, wenn es ihm gut tut, und ich bin froh, wenn mir jemand etwas erzählt.“
Das unbekannte Meisterwerk
Wie war daher für ihn die Zeit des Ausgangsverbots? „Ich hatte so meine Schlupfwinkel in den Hinterzimmern von ein paar Gasthäusern – wie in Amerika während der Prohibition. Ich war oft allein, hab’ was getrunken, der Wirt kam hinzu, wir haben geredet. Und ich hab’ mir von meinem Verlag, Gallimard, einen Schwindelzettel beschafft, falls die Polizei kontrolliert.“ Auf dem Zettel sei – „völlig verlogen“ – gestanden, dass er in der Nacht unterwegs sei, um ein großes Werk zu schreiben.
Handke hatte die Wohnung von Léocadie, die nun woanders lebt, gemietet: „Sie grenzt an Notre Dame. Dort im Haus hat Balzac ,Das unbekannte Meisterwerk‘ geschrieben. Und ich hab’ dort was gearbeitet. Ausnahmsweise! Ich wollte nicht immer in der Wohnung bleiben und fernsehen, also saß ich mit meinem Flachmann allein vor der Fassade von Notre Dame. Und dann kamen eben die Polizisten, sie sagten sehr höflich: ,Cher Monsieur, est-ce que je peux vous demander …‘ Also hab’ ich den Zettel hervorgeholt, der Capo hat mit der Taschenlampe drauf geleuchtet und mir viel Glück gewünscht. Dann bin ich noch zwei Stunden ganz still gesessen.“
Als ob sie Gespenster wären
Er erzählt auch eine Geschichte aus Chaville: „In meiner Gegend gibt es viele Waldteiche. Ich hab’ mir in den Flachmann ein bissl Wein und Cassis hineingetan – und bin dann sehr lang am Ufer gesessen. Ich hab’ viel langsamer getrunken als sonst. Viel langsamer! Die Stunden waren schön, wenn die Sterne aufgegangen sind, und es gab kaum Flugzeuge damals. Ich will das jetzt nicht in den Himmel heben, aber manchmal hab’ ich mir gedacht: Mensch, besser kann’s gar nicht sein! Für mich – im Moment. Das war Luxus, fast ein Idyll, ein Idyll einer Stunde. Immerhin! Insofern bin ich nicht gegen Idylle.“
Nachsatz: „Mir geht’s jetzt weniger gut als damals.“ Warum? „Ich weiß nicht. Mir kommt alles so falsch vor. Man sieht fast nur noch die Jungen unterwegs, und es gibt unendlich vereinsamte Alte. Sie huschen durch, als ob sie Gespenster wären. Vielleicht war das immer so, aber jetzt ist es auffällig. Wenn ich daran denke, wie man die Leute im Altersheim hat sterben lassen! Für mich müsste man die Verantwortlichen vor das Völkergericht stellen. Es gibt viel Schlimmes in der Geschichte, aber das war eine Variante und Nuance, wie wir sie noch nicht gekannt haben.“
Und ihm fällt noch eine Geschichte ein: „Ich lebe in Chaville im Departement Hauts-de-Seine, auf der anderen Straßenseite fängt das Departement Yvelines an. Ich ging dort, da kam ein Polizeiwagen: ,Ist Ihnen bewusst, dass Sie das andere Departement in Gefahr bringen?‘ Ich dachte, der Polizist macht einen Witz. Zwei Wochen später bekam ich den Strafbescheid, dass ich den Virus vom einen Departement ins andere gebracht hätte. 135 Euro. Ich war gerade in einer Arbeit – ,Mein Tag im anderen Land‘ – drin, daher hab’ ich mir gedacht: Scheiß drauf! Denn wenn ich protestiert hätte, hätte ich nur mehr daran denken können. Aber was da an Irrwitz passiert ist! Damals war es auch verboten, allein in den Wald zu gehen!“
Eine solche Pandemie hätte es noch nie gegeben. „Aber wenn die Experten aufgetreten sind, dachte ich mir: Hau dem links und rechts eine runter! Schon wieder ein Experte! Ist doch wahr!“ Und dann sagt er: „Können wir jetzt nicht aufhören damit? Alle Leute reden nur darüber … Wollen Sie nicht noch Schinken?“
Wir schnabulieren, plaudern über Graz, als er im Keller des Forums Stadtpark „Die Hornissen“ tippte, über Salzburg, wo Handke nach seiner langsamen Heimkehr gelebt hat, und die Kaschemme in der Schallmooser Hauptstraße, Mirjam’s Pub, mit der Musicbox. In der Jetztzeit hat das Handy die Funktion übernommen – und Handke fragt, ob ich „Marie“ von Johnny Hallyday spielen könne. „Dann bin ich gerührt, es ist ja wie ein Gebet.“
Das Intro erklingt. „Ja, das ist es. Schön!“ Er lauscht, schließlich übersetzt er für mich simultan aus dem Französischen: „Wenn Du wüsstest, all das Böse, was man mir angetan hat, in Deinen Armen wäre ich getröstet … Oh, Marie!“
Handke schrieb mehrere „Versuche“, darunter einen über die Jukebox. Ob noch einer folgen könne? Er verneint. Was dann? „Nicht fragen!“ Ob er über ein Stück nachdenke? „Jetzt bist aber still!“ Und ob er weiterhin zeichne? „Immer weniger. Alles geht vorbei. Das Zeichnen hat mir viel gegeben. Bevor Ihr gekommen seid, hab’ ich mir gedacht, es wäre schön, die Schattenbahnen der Bäume zu zeichnen.“
Der Salade César stellt sich als Backhendlsalat heraus. Handke bestellt eine zweite Flasche. Er erzählt, dass er von Burgtheaterdirektor Martin Kušej gebeten worden sei, sich die Inszenierung seines Stücks „Zdeněk Adamec“ von Frank Castorf anzuschauen, aber der Dramaturg hätte ihm gesagt, dass sie vier Stunden dauert: „Tatsächlich?“ Eigentlich sollten, meint Handke, 90 Minuten reichen für den Text.
Ich bestätige ihm die Dauer. Das gehöre zu Castorf, auch seine Inszenierung des neuen Stücks von Elfriede Jelinek sei nicht viel kürzer. Handke fragt mich, worum es in „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ geht. „Sie wollen es nicht wissen“, sage ich. „Um Covid!“ Er hätte großen Respekt für Elfriede Jelinek, aber das Theater aus der Aktualität sei nichts für ihn: „Mein Theater ist auch aktuell, aber anders aktuell. Ich erfinde die Aktualität, ich entdecke sie.“ So stellte er zum Beispiel fest: „Es gibt tolle junge Menschen, die nicht wissen, wie sie durch die Welt kommen.“ Einer von diesen ist Zdeněk Adamec, der sich aus Protest gegen die Zustände in der Welt als Fackel verbrannte: „Bitte haltet mich nicht für einen Narren!“
Eine große Expedition
Wir reden über dies und das. Schließlich frage ich Handke, ob er an die Wiedergeburt glaube. „Himmelherrgott, was für ein schöner Himmel gerade! Ich hoff’, dass ein Blitz herunterfällt auf diesen Thomas. Das ist eine völlig sinnlose Frage. Ich möchte weitertun im Leben – so lange ich lebe. Weiter mäandern, forschen, zuhören, schauen. Wie sagt Goethe? ,Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.‘ Das ist genug, mehr gibt’s nicht im Leben. Das ist das Drama des Lebens, das Schönste, was man tun kann.“ Das klinge, sage ich, wie eines der Gesetze, das sich Handkes Helden gerne geben.
„Wenn man sich selber ein Gesetz gibt, ist das schon viel, um gewissenhaft zu sein, um eine Form zu haben. Ich bin froh über alles, was ich gemacht hab’. Ich bin dankbar. Das Leben eines Schriftstellers ist eine große Expedition, auch jetzt, wenn man bald 80 wird und immer weiter tut, immer weiter versucht, dem Gesetz gerecht zu werden. Ich will einfach nur mitleben; mit dem Schreiben kann ich es relativ am besten. Wenn ich rede, bin ich manchmal supergut, aber das gibt mir nix. Ich spüre nur, wenn ich etwas mit der Sprache tu; wenn ich schreibe, da hat es Bestand. Wer weiß, ob’s stimmt, aber ich bild’ mir das zumindest ein. Aber so ein Mitläufer, Mitrenner, Mitgeher: Ich hätt’s gern gewollt, ich hab’s versucht, es ist mir nicht gelungen.“
Immer auch Sanftmut
Immer noch Sturm also. „Aber immer auch Sanftmut! Freude machen wollen! Im dummen Wortsinn lieb sein wollen zu anderen! Ich möchte einfach lieb sein.“ Daher rede er mit mir? „Irgendwie, ja.“ Und er schmeiße mich auch nicht beim Gartentor raus? Das war eine Anspielung auf eine Begebenheit Mitte November 2019, einen Monat nach der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises. Als Wolfgang Huber-Lang Fragen zu Handkes Position im Balkan-Krieg stellte, wurde er aufgefordert zu gehen. Handke warf das Gartentor hinter ihm mit dem Satz zu: „Ich will Sie in Stockholm nicht sehen.“
„Hier gibt es kein Gartentor“, sagt Handke vorsorglich. „Ich hatte den Journalisten von der APA eigentlich ganz gern. Aber als er dann die Mütter von Srebrenica …“ (Sie protestierten gegen die Nobelpreisverleihung, weil Handke mit seiner Parteinahme für Serbien den Völkermord verharmlost hätte.)
„Die Journalisten spielen sich gerne als Hüter der Moral auf, und wenn einer mich mit Moral zu erpressen versucht, dann …“ Dann kann er die Fassung verlieren. „1996 antwortete ich im Akademietheater auf eine ähnliche Frage: ,Gehen Sie nach Hause mit Ihrer Betroffenheit, stecken Sie sich die in den Arsch!‘ Was die New York Times übersetzt hat: ,Stecken Sie sich die Leichen in den Arsch!‘ Die haben sich nie entschuldigt! Ich bin halt auf Wörter empfindlich, manchmal zu empfindlich, aber das war unmöglich.“
Barfuß über Dornen
Handke beklagte im Jugoslawien-Krieg die einseitige Berichterstattung der führenden Medien – und hielt dagegen. Doch: „Mir geht immer der Spruch eines Menschen aus Bosnien durch den Sinn, von dessen Kindern ich der Taufpate geworden bin: ,In diesem Krieg sind alle jugoslawischen Völker barfuß über Dornen gegangen. Alle!‘ Der Westen hat sie im Stich gelassen. Und ich bin der Trottel, der nix weiß.“
Was Handke bis heute nicht verstehen kann: „Warum lehnt sich die vernünftige Welt nicht auf – und sagt: Er hat getan, was zu tun war – mit seinem Schreiben. Goethe hat gesagt: Kein Schriftsteller wird gut, wenn er moralisierend schreibt. Aber was er schreibt, wird die Moral beeinflussen. Jetzt trink ma noch eins, und dann …“ Handke schenkt den Rest der Flasche ein.
Die Schwedische Akademie hat sich nicht beirren lassen und Handke den Nobelpreis zuerkannt. Und Handke hat ihn angenommen, obwohl er behauptet hatte, dass ihn dieser nicht interessieren würde. Aber er ist ein „höflicher Mensch“, wie er sagt. „Und der Preis ist was Schönes. Er hat mich befriedigt, nein: befriedet. Ich bin auf den Friedhof gegangen: Mensch, jetzt ist Friede – für einen Moment.“
Der Tag ist lang
Tatsächlich nur für einen Moment. Der Tod von Fabjan Hafner, dessen Gedichte er übersetzte, hätte ihm großen Kummer bereitet. „Aber das Leben muss weitergehen. Goethe sagt: ,Das Leben ist kurz, der Tag ist lang.‘ Ich bin froh über jeden Tag. Für mich ist es nicht normal, dass man einen Tag übersteht.“ Und wann ist es ein geglückter Tag? „Nie! Es gibt sehr schöne Tage, aber es gibt immer einen Moment, wo es nicht geht. Wie schafft man den Triumph im täglichen Leben?“
Dauerhaftes Glück ist eben eine Fälschung: „Ich hab’ gedacht, man könnte es schaffen. Aber nein … Es gibt von Geburt an glückliche Menschen. Furchtbar, aber manchmal wohltuend. Wohin fahrt Ihr jetzt?“
Wir könnten ihn, sagten wir, überallhin bringen. „Dann kriegt Ihr bei mir noch ein Glas Champagner.“ So kam es. Aber, um es mit Peter Handke zu sagen: Das ist wieder eine andere Geschichte.
Die Überraschung: Die Schwedische Akademie gab am 10. Oktober 2019 um 13 Uhr bekannt, dass Peter Handke den Literaturnobelpreis erhält – nur 15 Jahre nach Elfriede Jelinek.
Die Proteste: Die Freude währte aber nur kurz: Handke wurde vorgeworfen, sich im Jugoslawien-Krieg mit Serbien solidarisiert und Kriegsverbrechen bagatellisiert zu haben. 2006 hatte er bei der Beerdigung von Slobodan Milošević eine (unpolitische) Rede gehalten. Die Akademie verteidigte ihre Entscheidung: Handke habe das Srebrenica-Massaker (1995) klar verurteilt. Die Mütter von Srebrenica protestierten dennoch.
Die Überreichung: Am 10. Dezember erhielt Handke aus der Hand von König Carl XVI. Gustaf den Preis – zusammen mit zwölf Wissenschaftlern und Olga Tokarczuk (für 2018).
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