Peter Handke reist mit der "Obstdiebin"
Peter Handke über Milliarden "Unerreichbare":
Unerreichbar für das Schöne, für das Wahre. Gern würde er sie (schreibt er) zum Aufhorchen bringen, gern würde er sie öffnen.
Bei Vögeln sei ihm das schon gelungen. sogar eine Kröte und eine Schlange hätten, als er sie anredete, die Ohren gespitzt (sozusagen).
Aber die unerreichbaren Menschen: Niemals lauschen sie ihm ...
Was würden sie denn von Handke zu hören, zu lesen, zu sehen bekommen im neuen Roman – der das "Letzte Epos" von ihm sein soll?
Eine wilde Haselnuss, wie ein Schmuckei aus poliertem Holz; eine "todsaubere Leere"; Schmetterlinge, Eulen, scheppernde Kanaldeckel; und Obdachlose, Hungrige, auch Polizei und Kontrollore, die zu sechst einen Zugwaggon stürmen. Das Schöne UND das Wahre ...
Erwünscht sein
Peter Handke verlässt für eine Reise aufs Land Haus und Garten. Möglich, dass er sich’s nur vorstellt. Über eine Obstdiebin will er schreiben, und das macht Sinn, denn das Buch heißt "Die Obstdiebin" .
Vom Erzählen erzählt er, und während er mit dem Zug von Paris in den Norden in die Picardie fährt (und auch davon erzählt), verwandelt er sich, er verschwindet, geht über in Alexia, so heißt die Obstdiebin (vielleicht).
Eine 25-Jährige, "anders schön, anders mächtig" – eine Staatenlose (wahrscheinlich). Eine "Heldin der Flucht" mit russischen Verwandten.
Wo die Oise in die Loire mündet, liegt sie im Ufergras. Hier übernimmt sie die Geschichte.
Ein Zigeunerleben führt sie, die Mutter ist auch irgendwo, der alte Vater ist ... der Erzähler? Ist Handke? Die Tochter will endlich: erwünscht sein.
Mit Staaten hat sie nichts am Hut. Aber für die Welt will sie da sein. Der Welt will sie etwas geben. Für sie singen. Kochen. Expertin sein. Wofür Expertin? Für ein besseres Leben (vielleicht).
Tagebücher
Alles soll ja ein wenig geheimnisvoll bleiben inmitten der vielen Wahrnehmungen des Dichters, die er auf Wanderungen durch Orte wie Chars, Courdimanche, Delincourt, Chaumont-en-Vexin ... gemacht hat.
Zeitweise klingt "Die Obstdiebin" wie ein " ins Reine" geschriebene Tagebuch – Handke hat übrigens eben erst dem Deutschen Literaturarchiv 23.500 handgeschriebene Tagebuchseiten verkauft.
Hier hört er Trauernden nach einem Begräbnis zu, da beschreibt er wie kein anderer eine Birne im Sommerwind.
... und wenn man beim Lesen immer wieder einzunicken droht, so geschieht das (meist) nicht, weil man zu den Unerreichbaren zählt.
Sondern weil es einfach ... so wohlig ist, dass in diesen Zeiten jemand Augen und Ohren hat für – nur scheinbar – Nebensächliches, für nur angeblich Unnötiges.
Und wieso nennt er Alexia ständig "Obstdiebin"? Sie hat Geld, sie arbeitet zwischendurch, das Studium war nichts für sie, doch sie fällt wirklich niemandem zur Last. Diebe verachtet sie.
Aber sie holt sich, das ist ihre Mission (ihre Freiheit), aus Gärten eine Frucht. Immer nur EINE. Das sei natürlich und rechtmäßig und erquicklich.
Und zweifellos poetisch.
Peter Handke:
„Die
Obstdiebin“
Suhrkamp.
559 Seiten.
35 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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