Nobelpreis für Literatur 2021: Ach, diese entsetzliche Lücke
Zwischen Home Office, Kinderbetreuung, Streamingfernsehen und der allgemeinen Unruhe während der Pandemie – wer fand da Zeit und Muße zu lesen?
Donnerstagmittag jedenfalls ist es zu spät: Es wird einen Nobelpreisträger oder, wie letztes Jahr eine Trägerin, geben, und man ist wieder nicht gerüstet. Was hätte man nicht alles weglesen sollen!
Aber die Lücken sind auch bei den heurigen Favoritinnen, ungefähr, gleich groß geblieben (wenngleich nicht jeder die selben Lücken hat).
Annie Ernaux (zuletzt „Die Scham“), die französische Beobachterin des täglichen Lebens, liegt bei den Buchmachern vorn; gefolgt von der kanadischen Dichterin Anne Carson. Jon Fosse, auf den heuer viel Geld gesetzt wurde, mag man auf Theaterbühnen mundgerecht serviert bekommen haben. Aber sollte aus diesen die Siegerin gekürt werden – hier werden nicht wenige nachlesen müssen.
Herummäkeln
Breiter wird es bei den gefühlt ewigen Kandidaten, die auch heuer wieder im Rennen sind. Ist endlich das Jahr von Haruki Murakami (und damit das Jahr, in dem nach der Verkündigung am literarischen Wert des Bestsellerautors ordentlich herumgemäkelt würde?)
Oder, noch endlicher, das Jahr von Margaret Atwood („Report der Magd“)? Wer würde besser in diese Zeit passen als die Kanadierin, die schon vor Jahrzehnten den Wort-Soundtrack zum doch in der Luft liegenden Gesellschaftszusammenbruch geschrieben hat?
Ach ja, Afrika wäre dran, Asien natürlich. Österreich wohl so bald nicht mehr.
Es ist, wie immer, ein Stochern im Nebel. Doch dieses Stochern hat zuletzt andere, schärfere Züge angenommen: Denn galt bis vor einigen Jahren die Entscheidung der Schwedischen Akademie gleichsam als Gebot vom heiligen Literatur-Berg herab, so ist diese Akademie nun alles andere als unantastbar geworden.
Immer noch hört man das Echo des Skandals um sexuelle Belästigungen, um Bevorzugung und die Zögerlichkeit, mit der die Akademie sich diesen Missständen gewidmet hat. Die Akademie hat durch ihre internen Dramen ihre Aura eingebüßt – und sich selbst herunter in die harte Gegenwart katapultiert. Dort wartet eine in ihrer Meinungsstärke raue Realität, die sich dann gleich 2019 querstellte: Die Auszeichnung Peter Handkes erntete bei vielen Lesern ein Nicken; wegen seiner Texte und Haltungen zu Serbien bei vielen Menschen nicht nur am Balkan aber Wut und Enttäuschung.
Gegen die Logik
Es zähle, wird auch heuer wieder betont, nur und ausschließlich der literarische Wert bei der Kür des Gewinners. Man würde das gerne glauben, es widerspricht halt nur so sehr der Aufregungslogik, die da draußen wütet.
Und in uns allen: Den Wirbel um Handke von vor zwei Jahren hat man wohl noch im Kopf; den Namen der sehr würdigen und völlig unkontroversiellen Vorjahresgewinnerin hat man aber wieder vergessen.
(Louise Glück).
Nimmt man den Gedanken mit in die Rechnung auf, dass die Akademie gerade heuer auch an ihr eigenes Image denken wird, eröffnen sich plötzlich ganz viele Möglichkeiten, für hilfreiches Aufsehen zu sorgen: Warum sollte der Literaturnobelpreis nicht an uns alle gehen – ist doch jeder von uns dank Internet Teil einer rund um die Uhr laufenden Textmaschine geworden?
Oder warum nicht, nach dem nicht eben mutigen Preis an Bob Dylan, eine Musikform auszeichnen, die wie keine andere vom Wort lebt, den Hip-Hop nämlich?
Beides würde wunderschöne Meinungsstürme auslösen, würde die Besinnung darüber fördern, was Literatur eigentlich für die Menschen ist. Und einem bis nächstes Jahr Zeit geben, die Lektürelücken aufzufüllen.
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