Neujahrskonzert-Dirigent Muti: "Wir schlagen gegen das Virus zurück“
„2020 soll zur Hölle fahren!“ Ausnahmedirigent Riccardo Muti findet im KURIER-Interview deutliche Worte für das, was sich ereignet hat. Denn die Corona-Pandemie hat viele Menschen das Leben gekostet, hat in allen Branchen Spuren hinterlassen, unzählige Existenzen vernichtet (das Schlimmste steht vermutlich sogar noch bevor) und auch das Kulturleben bis ins Mark getroffen. Geschlossene Konzertsäle und Theater, künstlerisch keine persönlichen Begegnungen, keine Live-Erlebnisse und ein Neujahrskonzert ohne Publikum. Muti: „Hätte mir das jemand vor etwa einem Jahr vorhergesagt, ich hätte nur gelacht.“
Ein Neujahrskonzert ohne Publikum als Botschaft der Hoffnung
Dennoch ist der Blick des Maestro nach vorne gerichtet. Immerhin dirigiert Riccardo Muti morgen, Freitag, bereits zum sechsten Mal das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – im dank der Wiener Stadtgärten festlich geschmückten Goldenen Saal des Musikvereins und vor einem Millionenpublikum an den Fernsehbildschirmen in aller Welt.
KURIER: Maestro Muti, ein Neujahrskonzert ohne Publikum – wie fühlt sich das an?
Riccardo Muti: Es ist für uns alle eine neue Erfahrung im Goldenen Saal, ohne Publikum zu musizieren. Und es war für mich bis vor Kurzem undenkbar. Aber wir spielen für die Millionen Menschen in aller Welt, die dieses Konzert via Fernsehen verfolgen können. Das müssen wir immer im Hinterkopf haben. Wir haben unser Publikum! Wir schlagen mit diesem Konzert gegen das Virus zurück und geben auch ein Zeichen der Hoffnung. Es wird ein jedoch anderes neues Jahr.
Es gibt kein Mitklatschen beim „Radetzkymarsch“ und nur virtuellen Applaus. . .
Beim ,Radetzkymarsch’ hört man eben nur das Stück, so wie es komponiert wurde. Es wurde nicht zum Mitklatschen komponiert. Dafür haben wir andere Stücke, teils Novitäten, im Programm. Es wäre fatal gewesen, dieses Konzert nicht zu machen.
Gab es solche Gedanken?
Wir haben viel diskutiert. Aber es wäre ein verheerendes Signal gewesen. Das war uns allen klar. In Italien wie auch in Österreich und in vielen anderen Ländern haben alle Theater zu. Dabei ist gerade das Theater der sicherste Ort der Welt. Mit Abstand und Masken – warum sollte das nicht auch mit Publikum gehen? Warum soll ein Konzertbesuch denn gefährlicher sein, als Skifahren?
Finden Sie, dass es die Regierungen mit den neuerlichen Lockdown-Maßnahmen übertrieben haben?
In Österreich bin ich nur Gast. Da steht mir kein Urteil zu. Denn ich bin sehr gerne hier Gast, seit mehr als 50 Jahren. Aber ich habe einen offenen Brief an unseren italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte geschrieben, in dem ich für die Öffnung der Theater plädiert habe. Er hat mir auch freundlich geantwortet. Aber die Häuser bleiben dennoch weiter zu. Dabei ist die Kunst, die Kultur, die Musik gerade jetzt ein echtes Lebenselixier. Ich verstehe nicht, warum man alles so lange schließen muss.
Dabei waren Sie einer der ersten Musiker, die – als es noch erlaubt war – aufgetreten sind. . .
Wir waren die Ersten. Das Luigi Cherubini Jugendorchester und ich haben Konzerte etwa in Ravenna, Spoleto, Kalabrien, Ravello und in Paestum (UNESCO Weltkulturerbe in der Region Kampanien, Anm.) gegeben. Mit Joseph Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“. Das war sehr berührend, emotional. Denn es geht ja um die jungen Musikerinnen und Musiker, die eine Zukunft brauchen. Deswegen habe ich dieses Orchester ja auch gegründet. Und ich bin sehr stolz, dass viele der jungen Musiker inzwischen bei großen, internationalen Orchestern engagiert sind.
Sie sind Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. Wie geht es da und in den USA generell weiter?
Es ist schlimm. Wir waren seit März nicht mehr beisammen. Aber wir sind in ständigem Kontakt. Ich habe etwa dem Orchester einen Schubert-Walzer per Video-Botschaft vom Klavier aus geschickt, Eine Fantasie voller Poesie. Wir waren alle sehr gerührt. Denn es gibt zwei Orchester, die tief in meinem Herzen sind. Die Wiener Philharmoniker und das Chicago Symphony Orchestra. In Chicago wollen wir mit Werken von Beethoven, Bruckner und Mahler starten. Aber das ist so, wie ein großartiges Auto, das seit einem Jahr nicht gefahren wurde. Man muss an einigen Schrauben drehen.
Der neapolitanische Maestro wurde am 28. Juli 1941 geboren und zählt zu den bedeutendsten Dirigenten aller Zeiten. Muti debütierte 1971 bei den Salzburger Festspielen auf Einladung Herbert von Karajans am Pult der Wiener Philharmoniker und ist seitdem diesem Orchester eng verbunden. Nach 1993, 1997, 2000, 2004 und 2018 leitet Muti sein bereits sechstes Neujahrskonzert. Muti war u. a. Musikdirektor der Mailänder Scala und gründete 2004 das Luigi Cherubini Jugendorchester (benannt nach dem gleichnamigen Komponisten) mit Sitz in Ravenna. Seit 2010 ist Riccardo Muti auch Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. Bei den Salzburger Festspielen wird er 2021 anlässlich seines 80. Geburtstags Beethovens „Missa solemnis“ dirigieren.
Im Mai hätten Sie Mozarts „Così fan tutte“ an der Wiener Staatsoper in der Regie Ihrer Tochter Chiara dirigieren sollen. Kommt diese Produktion noch, und gibt es andere Pläne unter dem neuen Direktor Bogdan Roščić ?
Wir konnten diese Produktion in Italien zeigen. Für Wien ist leider nichts geplant. Ich hatte ein Gespräch mit Bogdan Roščić, aber es gibt für die Staatsoper noch nichts Konkretes. Doch die Wiener Philharmoniker und ich werden diese „Così“ nächstes Jahr hoffentlich in Japan zeigen. Als Vater kann ich nur sagen: Diese Produktion ist sehr gut geworden. Chiara kennt „Così“ fast besser als ich.
Was bereitet Ihnen im Rahmen der Pandemie die größten Sorgen?
Die jungen Musikerinnen und Musiker, die nicht spielen dürfen, die kein Geld verdienen. Bleiben sie trotzdem ihrem Ideal, der Musik, treu? Wie kommen sie durch? Was ist mit dem Publikum? Hält es uns die Treue? Oder sagt man sich: Wir sind jetzt lange ohne Livekonzerte ausgekommen, muss ich noch dahin? Und in den USA ist die Pandemie für sehr viele Orchester und Häuser existenzbedrohend. Wenn die New Yorker Met im Jahr 2021 nicht mehr aufsperren sollte, dann sehe ich schwarz. Aber das will ich nicht. Gerade das Neujahrskonzert soll ein Zeichen des Neubeginns sein und Mut machen.
Damit sind wir beim Programm des Neujahrskonzerts. Nach welchen Kriterien wurde es ausgewählt?
Es ist ein wienerisches Programm mit kleinen italienischen Einflüssen, die auch die engen Beziehungen zwischen Österreich und dem Königreich Neapel betonen sollen. Königin Maria Karolina war bekanntlich die Tochter von Kaiserin Maria Theresia und hat kulturell sehr viel für Neapel gemacht. Das wollen wir auch thematisieren.
Sie werden 2021 80 Jahre alt. Was bedeutet das für Sie?
Dass meine Familie, meine Freunde an meiner Seite sind, bedeutet mir mehr als jede Jahreszahl. Dass ich bei den Salzburger Festspielen Beethovens „Missa solemnis“ und zwei Konzerte mit Chicago Symphony dirigieren darf, ist ein zusätzliches Geschenk.
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