Als Ralph Gleis seinem Professor am Kölner Kunstgeschichte-Institut einst eröffnete, dass er seine Magisterarbeit über den österreichischen Maler Anton Romako zu schreiben gedenke, riet dieser ihm ab: „Das lassen Sie vielleicht besser, Österreich ist ein eigener Kontinent!“ habe er gesagt, erinnert sich Gleis im Gespräch mit dem KURIER. „Das hat mich aber nicht abgehalten, sondern eher angeregt.“
Wenn Gleis, Jahrgang 1973, mit 1. Jänner 2025 seinen Posten als Generaldirektor der Wiener Albertina antreten wird, bringt er einige Kennerschaft über den „Kontinent Österreich“ mit: Nicht nur, weil er über Romako – eine Brückenfigur vom 19. Jahrhundert zur Moderne – am Ende auch dissertierte.
Als Kurator im Wien Museum betreute Gleis von 2009 bis 2017 zudem Ausstellungsprojekte, die mit einem Mix aus Kunst und Alltagsgeschichte tief in die Verwerfungen zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Fortschritt und Beharren blicken ließen („Experiment Metropole“ über Wien um 1873, 2014; „Kampf um die Stadt“ über Wien um 1930, 2009/’10, Anm.). Dass ihn „immer das größere gesellschaftliche Ganze interessiert, in dem die Kunst passiert“, lasse sich an seiner Arbeit ablesen, sagt er.
Moderne Zeiten
Auch in der Albertina haben sich die Kontinentalplatten bzw. die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschoben, seit Klaus Albrecht Schröder 1999 die weltbedeutende, doch wenig publikumswirksame Grafiksammlung übernahm und zu einem Mehrspartenmuseum mit einer Million jährlicher Besuche und zwei Standorten ausbaute. Bei Gleis’ Antritt 2025 soll noch ein dritter Standort, das wiedereröffnete Essl-Museum in Klosterneuburg, bespielt werden.
„Diese Neuorientierung birgt einerseits ganz großes Zukunftspotenzial und andererseits die Herausforderung, die Tragfähigkeit dieses Erfolgskonzeptes zu überprüfen“, erklärte Gleis nun, als ihn Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) am Mittwoch als „Idealbesetzung“ für die Nachfolge Schröders präsentierte. „Aus meiner Sicht sind perspektivisch der lebendige Ausstellungsbetrieb und die Sammlungsbestände im Sinne eines modernen Museums in Einklang zu bringen.“
Eine solche Ansage verlangt dann doch ein wenig Auslegungsgeschick. „Die Tragfähigkeit überprüfen“ bedeutet wohl, dass der von Schröder vorgegebene Takt an Großausstellungen im Angesicht von Teuerungswellen, hohen Transport- und Versicherungskosten und ökologischen Überlegungen nicht zu halten sein wird. Dahingehend sind auch Mayers Worte zu deuten, die von der Zielvorgabe sprach, „weiterhin in der Elite der Museumslandschaft mitzuspielen und das Tempo behutsam ein wenig zu drosseln.“
Gleichwohl bekennt sich Gleis zum publikumsträchtigen Ausstellungsbetrieb, der bekannte Kunst und „große Namen“ nach Wien bringt. „Wer die Albertina heute liebt, wird sie auch in Zukunft lieben“, beteuert er.
Ausstellungsthemen und Schwerpunkte sollen künftig aber stärker aus der Sammlung heraus wachsen, erklärt Gleis – das wäre unter dem erwähnten „Einklang“ zu verstehen. Auch die Betonung der Albertina als „Kompetenzzentrum für Kunstwerke auf Papier“ ist ihm ein Anliegen, und zwar sowohl im Ausstellungsbetrieb wie in der kunsthistorischen Forschung.
Parallel sollen Kooperationen mit anderen Museen helfen, publikumsträchtige Ausstellungen zu generieren, sagt Gleis, der die Albertina gern länger als nur eine Fünf-Jahres-Periode leiten würde.
Trans-Europa-Express
Wie so etwas funktioniert, ist in Gleis’ derzeitiger Wirkungsstätte, der Alten Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, zu beobachten: Für die Schau „Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann“ brachte man Hauptwerke dreier Helden von Modernisierungsbewegungen der Zeit um 1900 zusammen. Ab Mai 2024 wird die Zusammenschau dann auch im Wien Museum zu sehen sein.
Gleis spricht dazu von langfristigen Kooperationen, um „Sammlungsbestände in Blöcken auszutauschen“: Ein Gastspiel-Prinzip, das nicht nur, aber auch den hohen ökologischen Kosten geschuldet ist, die entstehen, wenn Kunstwerke einzeln auf Kurztrips gehen. „Es wird also hier nicht dörflich-wienerisch“, verspricht Gleis auf Nachfrage. „Wir wollen weltstädtisch bleiben und sind ein international agierendes Haus.“
Für Schröder war die Bindung von Privatsammlungen an die Albertina (Sammlung Batliner, Sammlung Essl) stets ein großes Ziel und Erfolgskriterium. Gleis betonte nur, dass solche Sammlungen für den Ausbau des Angebots natürlich wichtig seien und „stets einen Mehrwert für die Albertina“ bringen müssten. Er tat diesbezüglich aber keine konkreten Pläne kund.
Bleibt die Frage, was unter der Idee des „modernen Museums“ zu verstehen ist, die dem designierten Albertina-Chef als Leitstern für sein Handeln dient.
„In meinem Verständnis muss ein Museum, egal was es sammelt oder gesammelt hat, der Gegenwart verpflichtet sein“, sagt Gleis dazu. Dass er ein offenes Ohr für Debatten hat, die historische Kunst im Hinblick auf ausbeuterische Zusammenhänge oder Geschlechterrollen abklopfen, zeigte er 2022 mit der Schau „Gauguin – Why Are You Angry?“, die der exotisierenden Südsee-Romantik des Malerstars Paul Gauguin zeitgenössische Perspektiven aus Polynesien gegenüberstellte.
Wie viele Museumsleute treibt auch den designierten Albertina-Chef die Frage um, wie sich neue, vielfältigere Publikumsschichten erreichen und für Kunst begeistern lassen. Wie der designierte KHM-Chef Jonathan Fine will Gleis dabei zunächst Verständnis für die Grundlagen schaffen. „Eine Albertina für alle ist das Ziel“, erklärt er. „Die Leidenschaft für Kunst, die ich verspüre, will ich mit möglichst vielen Menschen teilen.“
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