Gesundheitsexperte gibt zu: "Vergessen Sie dieses Interview!"
*Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends.*
„Wir sind gefasst, so wie die Tourismusindustrie in Wien schon seit Monaten gefasst ist, aber natürlich ein weiterer Tiefschlag“ sagte ein Wiener Touristiker in einem Bericht der „ZiB 2“ am Mittwoch. Wahrscheinlich war nicht gemeint, dass der Tourismus fest im Griff des Coronavirus ist, obwohl das auch stimmt, sondern dass man auch die jüngste Hiobsbotschaft, dass Wien in Deutschland als Risikogebiet eingestuft wurde, mit Fassung trägt.
Auch die Bevölkerung scheint derzeit um Fassung zu ringen - wenn es etwa um die holprige Einführung der Corona-Ampel geht. Gerade jetzt wären kritische Experten gefragt, die kühlen Kopf bewahren und die Dinge klar und verständlich einordnen.
Gesundheitswissenschafter Martin Sprenger von der MedUni Graz könnte ein solcher sein. Aber sein gestriger Auftritt in der „ZiB 2“ hinterließ mehr Verwirrung als Verständlichkeit.
Zur Erinnerung: Sprenger hat sich im April aus der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium zurückgezogen, der damals von Minister Rudolf Anschober geschätzte Fachmann für Public Health war mit Kritik an Regierungsmaßnahmen - etwa an der Schließung der Bundesgärten - aufgefallen. Kanzler Sebastian Kurz kommentierte damals, er höre zum Glück nicht auf die falschen Experten.
Zurück zum Start?
Zunächst will Interviewer Armin Wolf von Sprenger wissen, ob Sprenger besorgt sei über die pandemische Entwicklung in Österreich.
Und gleich lässt der streitbare Experte aufhorchen: „Die Besorgnis begründet sich ja auf diesem Dashboard, das die positiv gesteten Fälle darstellt. Es wäre wirklich einmal interessant zu sehen, wie war das in den vergangenen Jahren? im Vorjahr hatten wir zu dieser Zeit 7000 Neuerkrankungen aufgrund von grippalen Effekten pro Tag, also rund 50.000 die Woche, damals hat uns das nicht besorgt gemacht, aber wir hatten auch kein Dashboard.“
Ganz Österreich diskutiert derzeit über die Corona-Ampel und jetzt sollen wir noch weiter zurückgehen und gleich das gesamte Dashboard in Frage stellen? Und wurde hier gerade SARS-CoV-2 mit grippalen Infekten verglichen?
"Aber was heißt das jetzt?"
Wolf zeigt sich ebenfalls irritiert und hätte gern Klarheit: „Aber was heißt das jetzt, was Sie gerade sagen? Wenn das Gesundheitsministerium keine Zahlen zu Corona veröffentlichen würde, dann hätten wir kein Problem?“
So will das Sprenger auch wieder nicht stehen lassen, man sehe ja, dass die Hospitalisierungszahlen wieder ansteigen. „Aber es wäre schon interessant auch zu wissen: Wer liegt da im Spital? Und wie definieren die österreichischen Spitäler eigentlich einen Covid-19-Fall?“ Sprenger sieht dafür „keine klaren Kriterien“.
Wolf will aber wissen, ob „die Situation jetzt besorgniserregend“ ist oder nicht. Er zitiert die Besorgnis des Bundeskanzlers, der bereits von der zweiten Welle spreche und die Besorgnis des Gesundheitsministers, der sage: "Wenn die Zahlen auf 1500 am Tag raufgehen würden, dann hätten wir ein richtig großes Problem.“ Ob die Politik recht habe?
„Das ist immer die Frage. Man muss auch Besorgnis definieren“, sagt Sprenger. Jetzt wird es langsam richtig kompliziert.
Was ist das Ziel der Politik?
Er vermisse eine „Zieldefinition“ für den Winter. „Was ist jetzt eigentlich das Ziel der Politik? Am Anfang war es, eine Überforderung der Krankenversorgung zu verhindern. Jetzt macht man das irgendwie an den positiv getesteten Fällen fest.“
Sein eigener Vorschlag lautet offenbar: „Wollen wir bei den Krankenhausaufnahmen aufgrund von Infekten der oberen und unteren Luftwege im Bereich der Zahlen von den letzten Jahren bleiben, auch bei den Intensivfällen? Oder … ja. Also dieser Vergleich wäre schon einmal passender.“
Wir versuchen, herauszulesen, dass Sprenger meint, dass die Politik nicht recht hat.
Altenpflege und Krankenversorgung als Kriterium
Wolf versucht noch einmal, eine klarere Einordnung zu bekommen: „Halten Sie die Schutzmaßnahmen, die in den letzten Tagen verschärft wurden, für unnötig?“
Sprenger: „Das wirklich Gefährliche an SARS-CoV-2 ist, dass es wirklich zu einer nosokomialen Infektion wird. Also dass es in sensible Bereiche kommt, wo es wirklich Schaden anrichten kann.“
Es gelte daher die Schutzmaßnahmen in Alten- und Pflegeheimen zu verbessern, dort sei die Hälfte aller Todesfälle in Europa passiert, erklärt Sprenger. Auch eine Ausbreitung im Krankenversorgungsbereich sei „bedrohlich“. Aber in den Krankenhäusern seien viele Maßnahmen bereits umgesetzt worden, hier mache er sich weniger Sorgen. „Aber denken wir an das letzte Jahr, da sind die kranken Menschen in den Arztordinationen zwischen den Hochrisikogruppen gesessen, in den Ambulanzen haben wir die kranken Leute einfach stundenlang sitzen lassen, kranke Kinder sind bei den Großeltern gewesen, das machen wir heuer alles nicht.“
Wir interpretieren wieder: In den wirklich problematischen Bereichen wird schon Vieles besser gemacht.
Aber Sprenger hat es noch einmal auf das Dashboard abgesehen: „Wir bilden ein Infektionsgeschehen auf dem Dashboard ab, aber wir vergleichen nicht mit vergangenem Jahr.“ Er hätte gern diesen Vergleich mit einem "normalen Infektionsgeschehen", das jedes Jahr von September bis Februar kumulativ ansteigt.
Die von Anschober genannte Gefahr durch „Feten“ nach Sportveranstaltungen oder in Nachtlokalen, kommentiert Sprenger lapidar: „Man muss immer schauen, dass das Infektionsgeschehen nicht zu groß wird.“
Martin Sprenger über die Corona-Situation in Österreich
„Die Maske ist ein Detail“
Ob die Maskenpflicht sinnvoll ist, will Wolf wissen.
„Die Maske ist ein Detail“, sagt Sprenger. Wir wissen seit Monaten, dass die Wissenschaftler sich nicht einig sind, ob Masken wirksam sind. Es hänge immer davon ab, wie hoch das Ausgangsrisiko ist.
Vorsicht, jetzt folgt ein Satz, an dem man lange kiefeln muss. Das kann einem schon einen längeren Abend verhauen.
Sprenger: „Es müssen wenige Menschen eine Maske tragen, um eine Infektion zu verhindern, wenn Sie in einem Bereich sind, in dem ein hohes Infektionsrisiko ist und es müssen viele Menschen, ja Hunderttausende, Masken tragen, wenn sie im Freien sind, um eine Infektion zu verhindern, vielleicht sogar noch mehr.“ Man müsse das "immer in Relation sehen".
Aber welche Relation? Jene zur Unbill, die durch das Maskentragen entsteht? Der Hausverstand würde wohl sagen: „Hilft’s nix, schad't’s nix.“
Aber immerhin: „Die Maske ist natürlich ein Teil der Schutzmaßnahmen. Aber ich glaube, dass andere Dinge mindestens gleich wichtig sind.“
Ein ganzes Land häke(r)ln?
Jetzt hätten wir natürlich gerne gewusst, welche anderen Dinge das sind.
Aber Wolf versucht es jetzt mit einem grundlegenden Ansatz: „Was ich nicht so ganz verstehe an ihrer Argumentation: Es beschäftigen sich seit einem halben Jahr sehr, sehr viele Menschen mit diesem Thema, Public Health Experten wie sie, Virologinnen, Epidemiologen, Statistiker, Ökomominnen, Politiker. Wenn das alles so unnötig, ist was die da machen, welchen Grund sollten die haben, ein ganzes Land mit zig Einschränkungen zu häkeln und die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten auszulösen?“
Sprenger: „Ich habe ja nicht gesagt, dass es unnötig ist. Ich hab sogar gesagt, dass es sehr wichtig ist, in den Krankenhäusern gut vorbereitet zu sein …“
„Aber alles andere?“ fragt Wolf.
Er habe sich „jetzt auch nicht dagegen“ ausgesprochen, Masken zu verwenden, sagt Sprenger. Man müsse sich darüber im Klaren sein, „dass Masken vor allem dann einen Sinn haben, wenn das Ansteckungsrisiko hoch ist.“
Die ganz große Veranstaltung
Und wie ist das mit Veranstaltungsbeschränkungen?
Man wisse mittlerweile viel über „sogenannte Superspreader-Veranstaltungen“, da sollte man „diesen Winter sehr vorsichtig“ sein.
Kitzloch und Konsorten dürften gemeint sein.
Aber Sprenger hält sich mit solchen Details nicht auf, ihm geht es um die ganz große Superspreader-Veranstaltung: „Was mir wichtig ist: So eine Pandemie ist ja ein gesamtgesellschaftliches Ereignis. Des betrifft das ungeborene Kind genauso wie eine Palliativstation. Diese rein virologisch-medizinische Betrachtung greift mir zu kurz.“
Die andere Ampel
Jetzt ist die Cotona-Ampel an der Reihe. Wolf erinnert daran, dass Sprenger schon früh, auch in der „ZiB 2“, eine Ampelregelung vorgeschlagen hatte, damals habe er es mit einem „Lawinenwarnsystem“ verglichen. Er fragt, was an der nun verwirklichten, amtlichen Ampel, falsch laufe.
Sprenger nennt drei Zwecke für ein Ampelsystem: „Sie soll das Risiko bewerten, sie soll das das Risiko kommunizieren und sie soll das Risiko-Management unterstützen.“
Er erklärt nun jene Ampel, die das Complexity Science Hub Austria der MedUni Wien (CSH) unter seiner Mitwirkung ab April gebaut habe. Am Anfang war sie vierfarbig, wie die Regierungsampel, dann wurde sie dreifärbig. „Dann haben wir versucht ,alle diese Parameter mit ins Spiel zu bringen, die auch jetzt in der offiziellen Ampel drin sind, da sind wir an der Message Control gescheitert“, sagt Sprenger.
In einfache Sprache übersetzt: Das Ministerium rückte anscheinend die Daten nicht raus.
Dadurch entstand die paradoxe Situation, dass Sprengers Ampel nur den Anstieg der Corona-Neuinfektionen einbezieht. Wir erinnern uns: Eingangs hatte er gesagt, dass das viel zu kurz greife und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden müsse.
In der „ZiB 2“ sagt er dann, es wäre wünschenswert gewesen, dass das CSH-Team einen offiziellen Auftrag bekommt, ihre Ampel weiterzuentwickeln und eine Art Begutachtungsprozess zu starten, für die Bereiche Tourismus, Bildung, Pflege, Kultur, Sport, „dann hätten wir Anfang September ein super Tool gehabt.“
Wie medial breit berichtet wurde, spricht Mitte September noch kaum jemand von einem „super Tool“. Aber der neue Vorschlag der Regierung, „dass in den einzelnen Regionen künftig aber unterschiedliche Maßnahmen möglich sein sollen“, das müsse doch wenigstens im Sinne des Experten sein, fragte Wolf sinngemäß. Im Frühling hatte Sprenger sich für regional abgestufte Maßnahmen stark gemacht.
"Die Frage noch einmal"
Mit dem Konzedieren von so viel Weitsicht schien Sprenger nicht gerechnet haben, oder lag es tatsächlich an akustischen Gründen, dass Sprenger sagte: „Die Frage zur Corona-Ampel bitte noch mal wiederholen, hab ich jetzt nicht so gehört.“
Wolf: „Also die Frage war, ob es sinnvoll ist, dass es in den unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Schutzmaßnahmen gibt.“
Dass es „keinen Sinn macht“, „Wien in Bezirke zu zersplittern“, sei „relativ rasch klar“ gewesen. Man müsste jetzt „überlegen, was wirklich praktikabel und umsetzbar ist“, damit die Corona-Ampel „wirklich ihren Zweck erfüllt, das Risiko so zu kommunizieren, dass man versteht, was für meine Region notwendig ist.“ Und dafür brauche man Zeit. Jetzt sei „halt alles relativ schnell gegangen“ und Sprenger meint, „dass sie politisch eben vereinnahmt worden ist. Aber vielleicht zieht sich die Politik auch wieder ein bisschen zurück.“
Es ist kaum zu erwarten, dass sie das tut, die Politik. Den Experten ist jedenfalls zu raten, zu mehr Klarheit zu finden. In dieser „ZiB 2“ hörte man zumindest eher, wo die Probleme liegen und weniger, was wirklich Not tut.
Reaktion: "Vergessen Sie dieses Interview!"
Laut dem Standard reagierte Sprenger am Morgen danach auf die Frage, was da los war, so: Er sei in einem blauen T-Shirt ins Grazer Funkhaus gekommen, was in einem Fernsehstudio nicht gern gesehen ist, und daher in ein "weißes unbequemes Hemd vom ORF" gesteckt worden, wie er auch auf Facebook schrieb. Dies habe ihn "aus dem Konzept gebracht", außerdem sei der Interviewer nur über einen kleinen Monitor zu sehen und über den Ohrstöpsel habe er "die meisten Fragen nicht verstanden."
Das Resümée: "Ich hab da völlig ausgelassen", und: "Vergessen Sie dieses Interview!"
Dieser Ratschlag kommt für den Verfasser dieser Zeilen zu spät.
Klarere Worte von Sprenger zu einem zweiten Lockdown finden Sie hier:
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