Neue Doku „Korridore des Lebens" steht beispielhaft dafür. TV-Hauptabteilungschef Matzek kündigt Streaming-Kanal „Universum live" und Publikumsgespräche an
Wölfe und Bären, Biber und Fischotter, Amphibien, Kraniche oder Lachse müssen wandern, um ihre Art zu erhalten und das mitunter Tausende Kilometer weit. Doch heute durchschneiden, unübersehbar und unüberhörbar, Straßennetze, Kraftwerke und Zäune ihre Wege. Es braucht neue „Korridore des Lebens“, so der Titel von Franz Hafners mit der Interspot Film produzierten „Universum“ (Dienstag, 20.15, ORF2), um „Europas grenzenlose Natur“ und damit die Artenvielfalt zu erhalten.
„Wir kennen alle die Bilder der großen Tierwanderungen aus der Serengeti. Die schlagzeilenträchtigen Kontakte von Wölfen oder Bären mit der Zivilisation zeigen, dass es Tier-Migration auch bei uns gibt. Diese Doku bringt dazu neue Erkenntnisse ganz konkret auf Österreich bezogen“, erzählt Thomas Matzek, Leiter der TV-Hauptabteilung Bildung, Wissenschaft und Zeitgeschehen im ORF. So sei etwa Hainburg bei Wien so etwas wie eine Schnittstelle der Tier-Migration, deren vielen Wege vom Schwarzen Meer über den Alpen-Bogen und bis hin zu den Pyrenäen führen.
„Hier gute Wildnis und da böse Zivilisation, das greift aber zu kurz“, sagt Matzek. „Es muss gutes Leben und industrielle Wertschöpfung genauso Platz haben, wie der Artenschutz und der Erhalt von Lebensräumen. Wir haben eine Erde, mit der müssen wir umgehen können.“
Abkehr vom Erfolgsprinzip der heilen Welt
Man habe deshalb beim ORF begonnen, entsprechende Geschichten verstärkt zu entwickeln. „Diese Eigenproduktion von Franz Hafner steht programmatisch für das Refreshment bei ,Universum nature‘“, sagt der Hauptabteilungsleiter. Diese Neuausrichtung bringe ein mehr an Journalismus und Realitätssinn. „Das heißt umgekehrt aber auch eine Abkehr vom langjährigen Erfolgskonzept von heiler Natur und Weltflucht.“
Saison-Vorschau Der neuen Linie bei „Universum Nature“ folgen im Herbst weitere ORF-Produktion: „Wildnis 2.0“ von Patrick Centurioni erforscht, wie die Natur auf Veränderungen (durch den Mensch) reagiert und sich anpasst
Langzeit-Projekt „Geister der Wüste“, ein Langzeit-Projekt der preisgekrönten Naturfilmer Will und Lianne Steenkamp, zeigt Überlebensstrategien der Löwen der namibischen Skelettküste
Spezial-Ausgabe Im „Universum spezial“ im Oktober, „Der blaue Planet – Zwischen Mangel, Überfluss und Ausbeutung“, geht es um den Lebensraum Wasser, der durch menschliche Eingriffe gestört wird
Tsunami-Gedenken „Die Nikobaren“, kurz vor Weihnachten, erinnert an die Tsunamikatastrophe vor 20 Jahren. Es zeigt die „Auferstehung eines Archipels“ aus den Trümmern
Diese Sicht auf die Dinge ausgelöst hat die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns. „Es gab damals viele Bilder von der Natur, die sich erholt, und von Tieren, die zurückkommen, wenn der Mensch wegbleibt.“ Man habe dann begonnen, das gemeinsam mit Forschenden und Rangern zu hinterfragen. Matzek: „Die Erkenntnis war: Der Mensch ist Teil des Systems. Bewegt der Mensch ein Rädchen, dann hat das für die Welt der Tiere und für unser gesamtes Ökosystem Auswirkungen.“
Jede vom Menschen gemachte Veränderung hat Folgen
Auch solche, an die man nicht sofort denkt. Matzek nennt etwa Probleme von Predatoren wie Schakale oder Marder während der Lockdowns. Denn sie waren über Jahre daran gewöhnt, sich im „Ökosystem Großstadt“ Lebensmittelabfälle von Restaurants zu holen, die nun aber geschlossen waren. Und „unsere Teams in Afrika haben berichtet, dass in den Wildparks der Tier-Bestand zurückgegangen ist, weil die Wilderer ohne Touristen weniger gestört waren. Das heißt, jede Veränderung hat einen Effekt.“
„Universum“ ist weiterhin eine Vorzeige-Marke des ORF, die linear immer noch einen Marktanteil von 20 Prozent erreicht. Matzek will sie mit neuen Aktivitäten jenseits des normalen Fernsehens stärken und man will auch neue Verbreitungsmöglichkeiten verstärkt nutzen.
„Wir wollen den Menschen, unserem Publikum, mehr Möglichkeit geben, hinter die Kulissen von ,Universum‘ zu blicken. Wir planen deshalb, unsere Filmemacher in die Landesstudios zu Publikumsgesprächen zu schicken“, kündigt Matzek an. Dort kann man dann erfahren, wie die mitunter spektakulären Aufnahmen der Natur-Filmer zustande kommen, wo und wie da gearbeitet wird und welche Standards eingehalten werden müssen.
„Wenn man, wie wir, über Natur, Umwelt und Ökologie berichtet, hat das natürlich auch sofort eine gesellschaftspolitische Komponente. Es geht um ein Gleichgewicht von Wohlstand und Bewahrung unserer Natur, die ja ein wesentlich psychosozialer Faktor für alle ist. Das Ziel unserer Arbeit ist aber nicht, eine unerreichbare Illusion vorzusetzen. Es gilt zu zeigen, was ist und über diese Arbeit daran in den Diskurs mit dem Publikum zu treten“, sagt Matzek. „Es ist, glaube ich, der richtige Moment dafür, ,Universum‘ zu öffnen zur Teilhabe von vielen.“
Die technische Entwicklung erleichtert diesen Schritt. Matzek kündigt an: „Wir starten ,Universum live‘. Wir wollen ermöglichen, dass jeder auf ORF On zum Natur-Filmregisseur werden kann.“
Die neue ORF-Streaming-Plattform, die Ende Mai die Beta-Phase verlässt, wird damit zum Spielplatz für Natur-Interessierte. „Wir bauen Minikameras, die zum Teil über Solarpaneele versorgt werden, an spannenden Tier- und Naturschauplätzen auf – Vogelnest, Fuchsbau, Futterstelle. In der Pilotphase sollen in jedem Bundesland wenigstens zwei Kameras eingerichtet werden“, erläutert Matzek. Bei diesem Projekt greift man u. a. auch auf das Netzwerk von Citizen Science. „Die Artenvielfalt zu dokumentieren, da ist die Forschung und auch wir auf die Mithilfe von Interessierten und Enthusiasten angewiesen.“
Grenzen setzen Gesetz und Budget
Und Matzek unterstreicht: „Wir wollen mit unserem Programm, insbesondere auch die jungen Menschen dort abholen, wo sie sind – das ist die digitale Welt.“ Beispiele wie jene des ZDF z. B. mit Mai Thi und Mirko Drotschmann zeigen vor, dass man damit auch für lineares Programm, in dem Fall „Terra X“, neue Publikumsschichten erschließt. „Das müsste man als ORF sicher zum Teil mit Menschen umsetzen, die diese Kanäle bereits bespielen.“ Denkbar sei viel, sagt Matzek, die Grenzen setzt das ORF-Gesetz und das Budget, das trotz ORF-Beitrag ja nicht mehr geworden sei.
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