Wie es sich im riskantesten Büro des ORF arbeitet

Paul Krisai leitet das ORF-Büro Moskau
Sie haben einen der spannendsten journalistischen Jobs, den es in den vergangenen Monaten zu verrichten galt: Paul Krisai, Carola Schneider und Miriam Beller berichten für den ORF aus dem Büro in Moskau. Und was es da im vergangenen Jahr alles zu recherchieren gab: Auf Befehl des russischen Präsidenten Wladimir Putin überfiel die russische Armee die Ukraine. Aus der für wenige Tage geplanten „Spezialoperation“ wurde ein Abnützungskrieg, der nun schon über zwölf Monate dauert. Für ihre Arbeit sind Krisai, Schneider und Beller heuer für eine KURIER ROMY nominiert.
KURIER: Sie arbeiten in einem Staat, der Krieg führt, der aber nicht so genannt werden darf. In Russland herrscht beinharte Propaganda, die eine Parallelrealität für seine Bürger schafft. Wie schafft man diese Grätsche emotional? Sie wissen ja, was wirklich los ist.
Carola Schneider: Ich würde nicht von Realitäten sprechen, sondern von Sichtweisen. Es gibt auch unsere Sichtweise hier in Russland, aber die ist einfach viel kleiner und wird gnadenlos niedergeknüppelt.
Paul Krisai: Man ist in Moskau in einer Situation, in der sehr viele Menschen das eigentlich verdrängen: Den Krieg, indem bekanntlich der Krieg nicht einmal wirklich so genannt werden darf. Persönlich finde es am schwierigsten, diese zwei Sichtweisen im eigenen Kopf zu vereinbaren. Aber es ist eigentlich auch ziemlich unmöglich.
Miriam Beller: Ich finde, da muss man insgesamt aufpassen. Es ist nicht so, dass es irgendwie diese und jene Variante der Geschehnisse gibt. Das, was bei den russischen Staatsmedien hier auf Sendung geht, hat ja mit der Realität überhaupt nichts zu tun.

Carola Schneider.
Putin gilt als irrationaler Akteur, der im Alleingang einen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Wie nähert man sich diesem Politiker journalistisch? Kann man ihn in irgendeiner Form einschätzen?
Krisai: Es erinnert mich an die Zeiten der Sowjetunion, wo es die sogenannte Kreml-Astrologie gab. Nur mit dem Unterschied, dass es vielleicht früher mit einem zwölfköpfigen Parteibüro in gewisser Weise noch ein Kollektiv von Entscheidungsträgern gab. Jetzt sind wir in einer Situation, in der es einen einzigen Mann gibt, von dem die meisten annehmen, dass er seine Entscheidungen relativ in Einsamkeit trifft – auch wenn wir selbst das nicht wissen.
Wie ist es für Sie, nach einem Jahr Krieg in Moskau zu arbeiten? Sie dürfen den Krieg ja nicht einmal Krieg nennen, weil Sie sonst gegen russische Gesetze verstoßen und hart bestraft werden können. Wie gehen Sie mit dieser Zensur um?
Beller: Wir fangen es ab, dass wir „Krieg“ sagen und dazu erklären, dass das hier aber nicht so genannt werden darf, sondern als Spezialoperation gilt. Generell habe ich das Gefühl, wir sind viel mehr unter Kontrolle. Und es ist wahnsinnig schwierig geworden, mit Menschen auf der Straße zu sprechen. Einerseits glauben sie die Propaganda, andererseits bringen wir sie potenziell in Gefahr.
Schneider: Wir wissen nicht, was die roten Linien der Behörden sind. Was gilt als sogenannte „Herabwürdigung des Einsatzes der russischen Armee zum Schutz des Vaterlandes“? Niemand kann vorhersagen, ob es die Behörden beispielsweise nicht stört, dass die Zentralredaktion in Wien von Krieg spricht.
Warum bleiben Sie unter diesen Umständen in Moskau? Oder anders gefragt: Wann muss man die Reißleine ziehen?
Krisai: Wenn wir merken, die Einschläge kommen näher und wir sind in einer tatsächlichen immanenten Gefahr für uns selbst und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dann werden wir uns überlegen, inwieweit es überhaupt noch sinnvoll ist, aus Russland zu berichten. Aber derzeit scheint mir, dass der journalistische Mehrwert größer ist, vor Ort zu sein.

Miriam Beller.
Als Russland die Ukraine überfiel und gleichzeitig im Land harte Zensurgesetze erließ, schien es auch für Sie drei über Nacht sehr gefährlich geworden zu sein. Haben Sie damals überlegt, Ihre Zelte abzubrechen?
Krisai: Es stand für uns nie in Frage, Moskau zu verlassen. Aber es gab eine Schockstarre, weil man überhaupt nicht wusste, wie dieses Gesetz angewendet wird. Mit der Zeit war es dann ein Rantasten an die Rahmenbedingungen, die den Behörden dann tatsächlich einfallen.
In Russland herrscht relativ altmodische Propaganda wie zu Sowjetzeiten. Im Westen hingegen formieren sich Gruppen, die komplizierte Verschwörungserzählungen zu den wahren Ursachen des Krieges formulieren. Oder wie Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer von der Ukraine fordern, klein beizugeben. Bei einer großen Demo in Berlin marschierten sie Seite an Seite mit Rechtsradikalen. Wie fanden Sie das?
Beller: Ich habe diese Bilder gesehen von Schwarzer, Wagenknecht, von dieser Demo. Da ist mir einfach die Kinnlade heruntergefallen. Es gibt im Westen dieses falsche Verständnis gegenüber Putin, wo wir sagen: „Wir geben ihm jetzt das und dann lässt er uns in Ruhe.“ Aber Putin macht keine Kompromisse.
Schneider: Alle die, die jetzt momentan damit argumentieren, Putin habe in den vergangenen 20 Jahren immer die Arme ausgestreckt, sollten sich mal überlegen, was sonst noch in den letzten beiden Jahrzehnten passiert ist oder was Putin aus diesem Land gemacht hat, seit er an der Macht ist.
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