"Bedrohung der Welt durch Putin nicht vorbei": Pressestimmen zur ukrainischen Gegenoffensive
Zur ukrainischen Gegenoffensive schreiben internationale Zeitungen am Montag wie folgt:
Wall Street Journal (New York):
"Die Gegenoffensive der Ukraine gegen die in das Land einmarschierten russischen Streitkräfte ist eine wichtige Wende im Krieg, wenn auch nicht ohne Gefahr, da Wladimir Putin kalkuliert, wie er darauf reagieren wird. Die westlichen Staats- und Regierungschefs müssen sich darauf einstellen, dass er Atomwaffen einsetzen oder versuchen wird, die Nato direkt in den Konflikt hineinzuziehen. (...)
Auch der Einsatz von chemischen und taktischen Atomwaffen durch Russland ist nicht auszuschließen. Der Einsatz von taktischen Atomwaffen ist Teil der russischen Militärdoktrin. (...) Eine nukleare Eskalation kann nicht als normale Kriegsführung akzeptiert werden. Der radioaktive Niederschlag könnte das Nato-Gebiet erreichen. (...) Wir hoffen, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs Putin klarmachen, dass er zu einem internationalen Außenseiter wird, wenn er nukleare Waffen einsetzt.
Es ist schrecklich, sich das vorzustellen, aber das ist die Realität in einer Welt, in der nach Jahrzehnten westlicher Selbstgefälligkeit Diktatoren auf dem Vormarsch sind. Die Fortschritte der Ukraine sind ermutigend, aber die Bedrohung der Welt durch Putin ist noch lange nicht vorbei.“
Tages-Anzeiger (Zürich):
"Damit ist es der Ukraine gelungen, den übermächtigen Angreifer Russland zum dritten Mal zurückzuschlagen: zuerst in Kiew, dann rund um Charkiw und nun im Süden der Stadt. Seit Wochen ging es im Krieg in der Ukraine weder vor noch zurück, von einem langen Abnutzungskrieg war die Rede, und es wurde die Frage diskutiert, ob Kiew militärisch eine reale Chance hat gegen Russland, ob sich die immensen Verluste rechtfertigen lassen und ob sich die massive westliche Waffenhilfe auszahlen kann. Nun hat die Ukraine klargemacht, dass sie auch nach über einem halben Jahr verlustreichen Kampfes die Russen noch immer das Fürchten lehrt. (...)
Die Ukraine hat sich bewiesen, dass sie in der Lage ist, eine starke Gegenoffensive zu starten, die es bisher nur in den Reden der Kiewer Führung gab. Genauso wichtig ist die Botschaft an den Westen, denn dort hat die Diskussion längst begonnen, ob die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine in diesem ungleichen Krieg wirklich den großen Unterschied machen."
De Telegraaf (Amsterdam):
"Dass in Russland die Unzufriedenheit zunimmt, ist nicht verwunderlich. Dennoch ist öffentliche Kritik angesichts von Repressalien bemerkenswert. Mutige Lokalpolitiker in Moskau und St. Petersburg rufen Putin zum Rücktritt auf und beschuldigen ihn des Verrats. Sie riskieren hohe Gefängnisstrafen. Wachsender politischer Widerstand kann für den russischen Präsidenten zu einer ernsten Bedrohung werden.
Aber zunehmender Druck birgt auch Risiken. Putin wird mit harter Hand versuchen, an der Macht zu bleiben. Dem Kreml ist klar, dass der Erfolg der Ukrainer auf dem Schlachtfeld auch durch westliche Waffen und Informationen amerikanischer Geheimdienste ermöglicht wird. Der Westen sollte deshalb darauf achten, nicht durch eventuelle Provokationen weiter in diesen Konflikt hineingezogen zu werden. Denn ein in die Enge getriebener Gegner ist unberechenbar."
Libération (Paris):
"Noch vor einem Monat hätte man sich nicht vorstellen können, dass sich die russischen Truppen so schnell aus Gebieten, die sie seit dem Winter kontrolliert hatten, zurückziehen würden. Handelt es sich um eine echte Niederlage oder um einen taktischen Rückzug? (...
Sicher ist, dass die westliche Militärhilfe (...) nicht nachlässt, was die Ukrainer zu beflügeln scheint. (...) Wichtig ist, dass die Ukrainer neue Siege einfahren, bevor die Kälte des Winters die Truppen ausbremst. (...) Außerdem besteht die Gefahr, dass die europäische Unterstützung im tiefsten Winter bröckelt. Dann, wenn das Heizen mangels russischen Gases erschwert wird. (...)
Doch wenn sich herausstellt, dass die russische Armee auf dem Rückzug ist, wie wird Wladimir Putin reagieren? Besteht nicht die Gefahr, dass er in seiner Zerstörungswut zum großen Vergeltungsschlag ausholt? Mit dem einzigen Ziel, zu zeigen, dass er nach wie vor über die Macht verfügt, anderen zu schaden."
Times (London):
"Einige Kommentatoren haben die Meinung vertreten, dass die jüngste Offensive im Süden nur ein militärisches Täuschungsmanöver war, um Russland abzulenken. Aber Tatsache bleibt, dass die Ukraine einen echten Versuch unternehmen müsste, dieses Gebiet zurückzuerobern, wenn sie den Krieg beenden will.
Ukrainische Offizielle erklären, dass sie dieses Gebiet bis Ende des Jahres zurückerobern wollen. Vor den Ereignissen der letzten Woche in Charkiw hätte diese Hoffnung vielleicht abwegig erscheinen können. Doch nun haben die Ukrainer gezeigt, dass sie in schwindelerregender Geschwindigkeit vorankommen können. Das Gleichgewicht in diesem Konflikt hat sich verschoben, und das könnte sich noch als entscheidend erweisen. Die Vorstöße der vergangenen Woche wurden durch westliche Ausrüstung und Unterstützung ermöglicht. Doch sie zeugen vor allem von dem außergewöhnlichen Mut und der Entschlossenheit des ukrainischen Volkes und seiner Armee."
Nepszava (Budapest):
"An der ostukrainischen Front ist es zu einer gewaltigen Wende gekommen. Der verblüffend schnelle Vormarsch der ukrainischen Kräfte ist ein weiterer Beweis dafür, dass Wladimir Putin es zwar perfekt versteht, an der Macht zu kleben und in seiner Heimat zum Alleinherrscher zu werden, dass er aber unfähig ist, in geopolitischen Dimensionen zu denken - und dass er, ähnlich wie einst der serbische Präsident Slobodan Milosevic, seinem Volk Schaden zufügt, der auch in Jahrzehnten nicht wieder gutzumachen ist.
Jetzt, wo die russischen Kräfte gezwungen sind, sich aus bedeutenden Territorien zurückzuziehen, hat in der russischen Führung schon die Suche nach dem Sündenbock begonnen, der Kreml zeigt auf das Verteidigungsministerium - und das, obwohl doch Putin selbst diesen Krieg angeordnet hat, der - langsam kann man es auch so sagen - einem Selbstmord gleichkommt."
Pravda (Bratislava)
"Was kaum jemand erwartet hatte, wurde Wirklichkeit. Die Ukrainer befreien im Eiltempo Städte und Dörfer im Nordosten des Landes bei Charkiw. Die Illusion von der Stärke der russischen Armee ist am Wochenende weitgehend zerronnen. Überlegungen, dass es für die Ukraine schon ein Erfolg sei, dass sie überhaupt bis heute widerstehen konnte, dass die Chancen auf Rückeroberung verlorener Gebiete aber winzig seien, gehören im Lichte dieser Tage der Vergangenheit an. In nur fünf Tagen eroberten die Ukrainer mehr Territorium zurück als die Russen seit April eroberten. (...)
Den gegenwärtigen Erfolg hätten die Ukrainer aber nicht ohne Waffenlieferungen aus dem Westen schaffen können. Unglücklicherweise hat sich bei uns in der Slowakei aber auch die Erfindung eingenistet, mit der Lieferung von Waffen würden wir nur Krieg und Verfall verlängern. Die Vertreter dieser Geisteshaltung sagen aber nie dazu, was daraus folgen soll. Tatsächlich ist das nur ein verhülltes Zeichen dafür, dass sie einen russischen Sieg ersehnen. Und das ist inakzeptabel."
El Mundo (Madrid):
„Wir sind Zeugen einer außergewöhnlichen Offensive der ukrainischen Armee im Norden des Donbass. Der Konflikt, der sich als ebenso langwierig wie herzzerreißend erweist, hat verschiedene Phasen durchlaufen, deren gemeinsamer Nenner immer das Scheitern der Strategie des Kreml war. Der Blitzkrieg, mit dem die legitime Regierung in Kiew enthauptet werden sollte, scheiterte dank des Mutes und der Entschlossenheit, mit der die Ukrainer ihre territoriale Souveränität sowie ihre Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gegen den irrationalen Kreuzzug des russischen Präsidenten verteidigten.
Es ist klar, dass diese Erfolge ohne die militärische Unterstützung durch den Westen nicht möglich wären. Nun ist eine Niederlage Putins in den Bereich des Denkbaren gerückt in einem Krieg, den er auf keinen Fall gewinnen darf, wenn uns an der Sicherheit und Stabilität Europas etwas gelegen sein sollte. Ja, die russische Erpressung mit fossilen Brennstoffen beschwört auch für uns harte Zeiten herauf. Aber solche Opfer beginnen sich auszuzahlen bei der Verteidigung der liberalen Demokratie und der Werte des europäischen Humanismus.“
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