"König Lear" im Burgtheater: Zwischen Nichts und Nichts
Das erste Wort ist: „Nichts“.
Die Bühne (Simeon Meier) ist kahl, schwarz. Am Boden liegen Menschen, wie Leichen. Hier regiert die Nacht. Langsam erheben sich die Statisten und tragen Lear auf einem großen Brett.
„König Lear“ ist vielleicht William Shakespeares finsterstes Stück. Der alt geworden, starrsinnige und reizbare König dankt ab und will sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Als Gegenleistung verlangt er, dass sie ihn ihrer Liebe versichern. Goneril und Regan tun dies, wortreich. Ausgerechnet sein Liebling, seine jüngste Tochter Cordelia, verweigert diese Fleißaufgabe. Lear gerät in Wut und verstößt sie – und wird seinerseits von den beiden anderen verstoßen, sobald sie ihr Erbe angetreten haben.
Lear, langsam dem Wahnsinn verfallend, irrt, begleitet von einem Narren, durch die Welt und kämpft gegen seinen unaufhaltsamen Niedergang.
Die Parallelhandlung beschreibt das Schicksal des königlichen Beraters Gloster. Er wird Opfer einer Intrige seines illegitimen Sohnes Edmund, der seinen Halbbruder Edgar verleumdet. Edgar muss fliehen und tarnt sich als Irrer, Gloster wird geblendet.
Hoffnungslos
Rafael Sanchez hat dieses markerschütternde Stück vor zwei Jahren am Schauspiel Köln inszeniert, der neue Burgtheater-Direktor Stefan Bachmann hat die Arbeit mitgebracht, sie hatte jetzt in Wien Premiere. Sanchez erzählt die Geschichte erbarmungs- und hoffnungslos, ganz auf den von Arnt Knieriem neu übertragenen und eingerichteten Text konzentriert.
Oder doch nicht ganz? Warum sich im Bühnenhintergrund in Filmzuspielungen geometrische Formen und Planeten drehen, bleibt unklar, ebenso, warum Lear in den erschütternden Heide-Szenen zum Teil als Filmbeitrag sprechen muss.
Trompeten
Und die Rolle des hervorragenden Musikers Pablo Giw bleibt völlig rätselhaft. Er kommentiert das Geschehen mit Trompetenklängen und Soundzuspielungen, was leider oft mehr stört, als unterstützt.
Hätte man Shakespeares grandioser Sprache vertraut und auf leerer Bühne ohne Ablenkungen gespielt, die Inszenierung hätte noch mehr Kraft entwickelt. Aber auch so ist das ein starker, faszinierender Abend.
Martin Reinke als Lear ist ein Ereignis. Geschminkt und frisiert wie ein Clown, ist er von Anfang an aufbrausend und stur. So einen unsympathischen Lear hat man noch nie gesehen. Die Liebesbeteuerungen, die er von seinen Töchtern einfordert, sind nichts anderes als Unterwerfungshandlungen.
Seinen Sturz in die Bedeutungslosigkeit nimmt er ungläubig und fassungslos zur Kenntnis, dass er dem Wahnsinn verfällt, ist glaubwürdig und ergreifend.
Großartig ist auch Sylvie Rohrer als Goneril. Sie ist eine aalglatte Politikerin, geschmeidig und gnadenlos. Ebenfalls sehr gut ist Lilith Häßle als ihre brutale Schwester Regan, die Gloster ein Auge zertritt und eines ausreißt. Wie beide, notgeil geworden, um Edmund buhlen, ist ebenso grauslich wie komisch.
Seán McDonaugh mit Vokuhila-Frisur als dieser Edmund bemüht sich nach Kräften, Gefährlichkeit auszustrahlen, wirkt aber ein wenig zu harmlos, wie ein pubertierender Halbstarker.
Eine hinreißende Darstellung liefert Katharina Schmalenberg ab, die gleich drei Rollen spielt. Als Cordelia ist sie zurückhaltend und still, warum sie ihren Vater ihrer Liebe versichern soll, ist ihr unbegreiflich (liebt sie den alten Sturkopf vielleicht gar nicht?). Den Narren zeigt sie traurig und hoffnungslos. Und als sich irr stellender Edgar berührt sie.
Verrückte führen Blinde
Bruno Cathomas ist als Gloster zunächst drollig (es gibt Lacher) und später, als er vernichtet wird, verzweifelt.
Das berühmteste Zitat dieses Stückes lautet bei Shakespeare: „Tis the time’s plague, when madmen lead the blind.“ Hier heißt es: „Das ist der Fluch der Zeit, Verrückte führen Blinde.“ Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Das trifft auch heute leider nur allzu sehr zu.
In Teil eins des inklusive Pause drei Stunden und 45 Minuten langen Abends wird auch viel geschrien, man versteht den Text nicht immer gut. Teil zwei ist dagegen fast still, hier sieht man das Schicksal an der unerbittlichen Arbeit.
Am Ende ist Lear tot, und das letzte Wort lautet wieder: „Nichts.“
Vom Publikum gab es nur freundlichen Applaus für einen bemerkenswerten Theaterabend.
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