Jetzt erst recht: Auch St. Pölten macht Wiener Festwochen
Am Freitag, vier Tage nach der großen Programmpräsentation der Kulturhauptstadt Bad Ischl, stellte die Tangente ihre Pläne im Detail vor. Sie ist das Kulturhauptstadt-Ersatzfestival, weil St. Pölten vor der EU-Jury 23 Gemeinden des Salzkammerguts unterlegen war. Der Titel dürfte nicht zu Unrecht nach Ischl gegangen sein. Denn dort werden viele Projekte von lokalen Initiativen oder Kunstschaffenden umgesetzt. Und das Kunsthandwerk spielt eine Rolle. Die Tangente hingegen ist, auch wenn Kuratoren aus St. Pölten mitwirken, vor allem eine Abspielstation im internationalen Festivalreigen.
Konzipiert worden war das Festival, aus einer Jetzt-erst-recht-Attitüde der Politik entstanden, von Christoph Gurk. Er hatte zuvor als Dramaturg für die Münchner Kammerspiele unter der Leitung von Matthias Lilienthal gearbeitet. Es wundert daher nicht, dass Lilienthal bei der Tangente sein „Erfolgsformat“ namens „X-Wohnungen“ aus 2002 für St. Pölten adaptiert und erweitert.
Abgefahrener Reifen
Gurk holte zudem seinen langjährigen Kollegen an den Kammerspielen, Tarun Kade, nach St. Pölten. Und nach dem wohl nicht ganz freiwilligen Ausscheiden des Intendanten übernahm Kade die Leitung. Er also präsentierte das Programmbuch, dessen Cover ein abgefahrener Reifen ziert. Vom Umfang her ist es mit 416 Seiten voluminöser als jenes der Ischler. Obwohl sich die Tangente nur über fünf Monate – von 30. April bis 6. Oktober – erstreckt.
Als „Festival für Gegenwartskultur“ räumt sie der Vergangenheit breiten Raum ein: Auf 150 Seiten gibt es Fotos aus dem Archiv. Dem Bilderbogen liegt die Idee zugrunde, St. Pölten ins Weltgeschehen einzubetten. Das Panoptikum reicht von alten Ansichten über die Fuhre Mist vor dem Burgtheater anlässlich der „Heldenplatz“-Uraufführung 1988 und dem Sturm aufs US-Capitol bis zum Raketenbeschuss der Hamas vor wenigen Wochen. Auch die Ex-Kanzler Bruno Kreisky (eine Seite) und Sebastian Kurz (zwei Seiten) werden gewürdigt. Die Tangente ist schließlich ein Gemeinschaftsprojekt von Bürgermeister Matthias Stadler (SPÖ) und Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Von der FPÖ wird nur das Autowrack von Jörg Haider aus 2008 gezeigt.
Erinnerung also. Das Stadtmuseum steuert eine Ausstellung über St. Pölten im Nationalsozialismus bei. Und bei Lilienthals „X-Erinnerungen“ begeben sich Kunstschaffende, darunter Kurwin Ayub, Sara Ostertag und Tim Etchells, auf Spurensuche in verlassene Fabriken und versteckte Vereinsheime.
Hydrofeminismus
Die anderen Schwerpunkte sind Ökologie und Demokratie. Bestritten wird das Programm zu einem Gutteil von Künstlern, die man von den Wiener Festwochen kennt, darunter – neben Tim Etchells – Philippe Quesne, Milo Rau und Susanne Kennedy. Zusammen mit Markus Selig schafft die Regisseurin eine Multimedia-Installation auf dem Gelände der ehemaligen Glanzstoff-Fabrik mit dem Titel „Wasteland“.
Ortsspezifische Projekte stehen sicher im Mittelpunkt: Es gibt unter anderem den Kunstparcours „The Way of the Water“ entlang der Traisen und des Mühlbachs (Inspirationsquelle war u. a. der „Hydrofeminismus“) und den neuerlichen Versuch, das abgeschottete Regierungsviertel mit der Traisen und der Stadt in Beziehung zu setzen. Unter dem Titel „StadtLandFluss“ soll auch der Klangturm wieder erklingen. Und weil es ohne Rimini Protokoll – immer wieder bei den Festwochen, im Wiener Volkstheater und nun auch in Bad Ischl – nicht geht, lädt Mitbegründer Stefan Kaegi zum siebenstündigen Wandertag „Shared Landscapes“ ins Umland ein.
Bäumchen in Trögen
Auch der menschenleere, neuerdings mit sechs Bäumchen in Trögen bestückte Domplatz – er sei laut Mikl-Leitner „im neuen Glanz erstrahlt“ – soll nicht länger ein „Wasteland“ sein: Auf das Mini-Stonehenge „Ein Bad für Florian“ von Christian Philipp Müller folgt im Sommer eine Installation von Mariana Castillo Deball. Vier Tage lang wird es Kino unter Sternen geben – und am 6. Juli „Pop am Dom“.
Interessanterweise gibt es auf 416 Seiten kein Kalendarium. Wenn man sich die verstreuten Daten zusammenkramt, gelangt man zum Schluss, dass man am 30. April mit „Justice“ von Milo Rau startet. Tags darauf wird „The Way of the Water“ eröffnet, am 2. Mai gibt es im Dom ein experimentelles Orgelkonzert, am 3. Mai folgt „Shared Landscapes“ und am 4. Mai gastiert The Notwist mit „Alien Disko“.
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