Der mächtige rote Balken aus Licht in der Landschaft vermittelt ohne Worte: Hier ist eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Und dann wird es allmählich nicht nur dunkel, sondern düster. Die Natur liest den Menschen die Leviten: „Die Ausrottung Eurer Spezies wird eine Erlösung. Ich brauche Euch nicht.“
Der Tag begann mit Sonnenschein. Man fuhr zu Mittag von Berlin in Richtung Osten und stieg in Hangelsberg, einem an sich völlig unbedeutenden Ort (mit einem der ältesten erhaltenen Bahnhöfe Deutschlands), aus. Im Pulk, wie bei einem Wandertag, trottete man auf einer Forststraße in einen Wald hinein. Denn die Berliner Festspiele zeigten als dritte Station in Europa „Shared Landscapes“, einen gut siebenstündigen Szenenreigen zum Umgang der Menschen mit der Natur.
Konzipiert von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi, einem Mitbegründer des Kollektivs Rimini Protokoll, hatte er im Mai bei Lausanne seine Uraufführung erlebt, danach, im Juli, folgte eine Aufführungsserie in Avignon. Und nächstes Jahr geht die „Tournee“ weiter: Im Juni wird „Shared Landscapes“ in Mailand, danach auf der Halbinsel Setúbal nahe Lissabon und im August bei Ljubljana realisiert. Davor, im Mai, entsteht eine eigene Version für die Tangente St. Pölten, das Ersatzfestival für die Kulturhauptstadt Europas – der Titel ging ja an Bad Ischl und das Salzkammergut.
Krachend fällt ein Baum
Das Absurde, Verstörende an diesem Wandertag ist: Man nähert sich der Natur – mit High Technology. Denn man bekommt einen Funk-Kopfhörer, später erlebt man eine Himmelfahrt mit einer VR-Brille. Und gegen Ende hin hört man aus Lautsprechern krächzende, bedrohliche Geräusche zu den anklagenden Texten der Mutter Natur, die man eine halbe Stunde lang gebannt mitlesen muss.
Das erste der „Sieben Stücke zwischen Wald und Wiese“ ist eine fast prototypische Arbeit von Stefan Kaegi: Man darf es sich bequem machen und einem Hörspiel lauschen. In diesem unternimmt eine Gruppe aus Psychoanalytikerin, Meteorologin und neugierigem Kind mit dem Förster eine Expedition in den Wald. Immer wieder vernimmt man Flugzeuglärm, Insekten sonder Zahl schwirren umher, die „Experten des Alltags“ reden über das Unbewusste, die Monokultur zu DDR-Zeiten, den Klimawandel und so weiter. Nach 35 Minuten fällt krachend ein Baum.
Kaegi erstellt für jeden Ort ein neues Hörstück – mit dort lebenden Menschen. Die Konstellation bleibt die gleiche, die Inhalte aber variieren. In Südfrankreich zum Beispiel waren die Waldbrände ein Thema. Und das finale Fallen des Baumes klang, weil es dort keine Prachtexemplare wie in Deutschland gibt, lange nicht so imposant.
Die „Außenposition“ nahm in Berlin eine brasilianische Sängerin ein, die sich vor dem Dschungel samt Schlangen fürchtet. In Avignon berichtete eine ukrainische Sängerin vom Wald ihrer Kindheit, der jetzt vermint ist. In Lissabon werde wahrscheinlich, sagt Kaegi, eine angolanische Sängerin zu Wort kommen, in St. Pölten jemand aus dem Iran.
Ähnlich geht auch Émilie Rousset vor: Sie stellt drei verdichtete Interviews mit lokal engagierten Akteuren nach. Die Bioakustikerin Fanny Rybak bedauert, dass der Bestand an Lerchen, die 350 verschiedene „Silben“ singen können (und daher über eine Sprache verfügen), massiv dezimiert wurde. Faustine Bas-Defossez vom Europäischen Umweltbüro berichtet über den verzweifelten Kampf in Brüssel zur Erhaltung der Artenvielfalt. Auch die Bauern hören keine Vögel mehr, verzichten aber trotzdem nicht auf den Einsatz von chemischen Pestiziden: „Jetzt ist es still.“ Und Carlo Horn erzählt über sein lukratives Business: Er stellt „Designerfood“ für Pferde her. Gekauft wird das Spezialheu u. a. von Rolls Royce – um 1.000 Euro die Tonne, mehr als zehnmal so teuer wie Heu aus Polen. Geradezu dekadent. Und dann pflügt sein Fendt-Traktor mit leuchtenden Scheinwerfern als Monster durchs Unterholz.
Himmelfahrt in Zeitlupe
In den dichten Wald nahe Berlin (mit Millionen Gelsen) passte die Performance, wiewohl sehr eindringlich, nicht: Der Traktor sei zwar „charmant“, aber doch außerhalb seines üblichen Kontextes gesetzt gewesen, sagt Kaegi. In Niederösterreich werde sich der Fendt weit besser in die „Kulturlandschaft“ einfügen.
Wie großflächig der Forst ist, erfuhr man stehend mit VR-Brille und Headset: Begüm Erciyas und Daniel Kötter nehmen das Publikum zu einem verblüffenden Erkundungsflug einer Drohne mit – in extremer Zeitlupe, ergänzt um eine unheimliche Soundinstallation. Die Künstler verweisen auf den militärischen Einsatz der Fluggeräte im Grenzgebiet. Damit fällt dieser Beitrag, der tatsächlich auf die „geteilte Landschaft“ anspielt, zwar ein wenig aus dem Konzept, das ja das „Sharen“, das gemeinsame Teilen, ins Zentrum rückt. Doch er bietet für Kaegi eine wichtige Facette. Denn das Militär ist, wie er beim Location-Scouting erkennen musste, mit Sperrgebieten und Übungsgeländen ungeheuer dominant.
Im Rahmen von „Shared Landscapes“ laden Sofia Dias & Vitor Roriz zudem zu einer Audiotour ein, die sich als liebevolles Mitmachtheater entpuppt. Immer wieder erklingen während des langen Nachmittags Kompositionen von Ari Benjamin Meyers: Die Blasmusikerinnen spielen im Unterholz oder huschen durchs Gesichtsfeld – wie scheues Wild. Und dann gibt es noch ein „Picknick“ mit einer Person im Rollstuhl vor einem vergrößerten Bild von Caspar David Friedrich. In der Arbeit von Chiara Bersani & Marco D’Agostin prallen Romantik und Realität aufeinander. Keiner ist ohne Hilfsmittel (Regenjacke, Sonnen- und Insektenschutz) lebensfähig, alle haben eine Behinderung. Der Bub im Hörspiel (in der Berliner Version) fragt sich, ob er überhaupt dahin gehöre. Und Kaegi findet es spannend, dass der Mensch die Natur, um sie gangbar zu machen, zerstören muss.
Und da setzt das spanische Kollektiv El Conde de Torrefiel ein, das bei den Wiener Festwochen 2022 mit „Ultraficción Nr. 1“ im Kurpark Oberlaa zu begeistern vermochte. Es fesselt auch jetzt. Denn der rote Balken ist ein LED-Panel – und über diesen kommuniziert die geschundene Natur mit den Menschen (leider nicht mit jenen, die verantwortlich sind): „Ihr habt den ganzen Nachmittag über mich geredet. Ihr habt mich als Bühnenbild benutzt. Jetzt spreche ich zu euch.“ Ja, diese Performance hinterlässt ein Gefühl der Betroffenheit. Still, ermattet tritt man bei Einbruch der Dunkelheit die Wanderung heimwärts an.
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