Eine Bühne unter Druck
Was einst als unbeschwerter Musikwettstreit begann, ist heute ein globales Medienereignis – mit Millionenpublikum und enormer gesellschaftlicher Reichweite. Doch mit dieser Bedeutung wächst auch der Druck auf die Organisatoren. Die Europäische Rundfunkunion (EBU), die hinter dem Song Contest steht, sieht sich mehr denn je im Kreuzfeuer: Einerseits muss sie für mediale Neutralität einstehen, andererseits wächst der öffentliche Ruf nach klarer Haltung, insbesondere im Fall Israel.
Denn während im Gazastreifen Krieg herrscht, tritt Israel in Basel mit einer Künstlerin auf, deren persönliche Geschichte Symbolkraft hat. Yuval Raphael, 24, überlebte im Oktober 2023 das Hamas-Massaker beim Nova-Musikfestival, indem sie sich unter Leichen versteckte. Heute steht sie auf der ESC-Bühne – nicht als Politikerin, sondern als Sängerin. Doch nicht alle wollen diese Trennung gelten lassen.
Bereits bei der ESC-Parade wurde sie von einem Demonstranten mit einer martialischen Geste bedroht. Auch im Netz häufen sich aggressive Kommentare und Forderungen nach einem Ausschluss Israels vom Song Contest werden lauter – zuletzt von 72 ehemaligen Teilnehmern, darunter der Schweizer Vorjahressieger Nemo.
Warum Israel (noch) dabei ist
Die Antwort auf die Frage, warum Israel trotz großer Kritik teilnehmen darf, ist komplexer als viele vermuten. Die EBU ist kein beliebiger Eventveranstalter, sondern eine Organisation mit politischem Ursprung. Gegründet 1950, um unabhängigen, staatsfernen Rundfunk zu sichern, war sie von Anfang an ein Gegenmodell zu staatlicher Propaganda – damals im Schatten von Faschismus und Kaltem Krieg. Der ESC war nur eine medienwirksame Nebenerscheinung dieser Mission.
Heute wird ebendiese Mission auf eine harte Probe gestellt. Der israelische Sender Kan ist seit 2017 Mitglied der Europäischen Rundfunkunion (EBU), die den Song Contest veranstaltet. Formal gilt Kan als unabhängiger öffentlich-rechtlicher Sender und gerät immer wieder ins Kreuzfeuer der Netanjahu-Regierung, die seine Privatisierung fordert. Für die EBU, die sich dem freien und unabhängigen Rundfunk verpflichtet hat, wäre eine Privatisierung ein klarer Bruch ihrer Grundsätze.
Im Schatten des Konflikts im Gazastreifen, wächst nun der Druck, Israel vom ESC auszuschließen. Ein solcher Ausschluss würde aber eben nicht nur die Regierung treffen, sondern auch Kan, einen Sender, der unabhängig arbeitet. Für die EBU entsteht dadurch ein tiefgreifendes Dilemma. Sie steht zwischen ihrem Auftrag, freie Medien zu verteidigen, und der schwierigen Realität eines Krieges – ein Balanceakt, der alles andere als einfach ist.
Zwischen Bekenntnis und Boykott
Die Europäische Rundfunkunion sieht sich einer Problemstellung gegenüber, die sich nicht durch PR oder Fairplay-Gelöbnisse lösen lässt. Schon im Vorjahr wurde Israels damalige Vertreterin Eden Golan auf und hinter der Bühne gemobbt, es kam zu Buh-Rufen und Demonstrationen. Um ähnliche Szenen zu vermeiden, verpflichten sich Teilnehmer seit diesem Jahr zu fairem Verhalten – doch das ist nur Symptombekämpfung.
Bei der Generalprobe des zweiten Halbfinals, im Zuge dessen Israel auftrat, kam die angespannte Stimmung deutlich zutage: Mit großen Palästina-Fahnen und Trillerpfeifen wurde der Auftritt von Yuval Raphael gestört, sechs Protestierende wurden aus dem Saal begleitet. Beim Halbfinale selbst war die Atmosphäre vergleichsweise ruhig.
Die grundsätzliche Frage bleibt dennoch: Welche Werte repräsentiert der Song Contest – und wie konsequent werden sie angewendet?
Im Fall Russlands griff die EBU nach dem Überfall auf die Ukraine erst ein, als andere Länder mit dem Boykott drohten.
"United by Music"
Der Eurovision Song Contest galt lange als popkultureller Vorreiter: für Toleranz, Diversität, Emanzipation. Dana International, Conchita, Måneskin – sie alle standen für Wandel und Offenheit. Heute droht dem ESC das Gegenteil: eine Identitätskrise zwischen Symbolpolitik und Systemschutz.
Das Motto in Basel lautet erneut „United by Music“. Doch gerade am Beispiel dieses musikalischen Einheitsversprechens werden die Risse im Fundament deutlich. Wenn sich das Publikum spaltet, Künstlerinnen bedroht werden und Veranstalter schweigen, dann dürfte die Musik wohl ihren verbindenden Charakter verlieren.
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