Zum 30. Todestag: "Thomas Bernhard gehört zur österreichischen Seele"

Zum 30. Todestag: "Thomas Bernhard  gehört zur österreichischen Seele"
Hermann Beil, der mit Claus Peymann das Burgtheater leitete, über den oft unbequemen Schriftsteller, der vor 30 Jahren starb.

Hermann Beil, 1941 in Wien geboren, kam 1974 ans Staatstheater Stuttgart – als Dramaturg für Claus Peymann. Fortan arbeiteten sie zusammen: Sie gingen 1979 nach Bochum, 1986 ans Burgtheater und 1999 ans Berliner Ensemble. Peymann hatte nicht nur das erste Stück von Peter Handke, die „Publikumsbeschimpfung“, uraufgeführt, sondern 1970 auch das erste von Thomas Bernhard. Die erfolgreiche Inszenierung von „Ein Fest für Boris“ in Hamburg begründete die lebenslange Verbindung zwischen Regisseur und Autor. Und so kam es, dass Beil an vielen weiteren Bernhard-Uraufführungen beteiligt war ...

KURIER: Wie war die Zusammenarbeit?

Hermann Beil: Wir hatten einen unverkrampften, freundlichen Kontakt. Bezeichnend ist für mich ein Telefonat Anfang ’84. Wir bereiteten gerade die Uraufführung von „Der Schein trügt“ vor. Bernhard Minetti und Traugott Buhre spielten, Peymann inszenierte, Erich Wonder machte das Bühnenbild. Ich rief Bernhard an und fragte: „Haben Sie besondere Wünsche fürs Programmbuch?“ – „Nein, ich habe keine Wünsche. Machen Sie nur!“ – „Wollen Sie nicht etwas dafür schreiben?“ – „Nein.“ – „Haben Sie vielleicht einen unveröffentlichten Text?“ – „Nein, habe ich nicht.“ Ein paar Tage später kam ein Expressbrief. Wörtlich schrieb Bernhard: „Ihr Telefonat hat diese Skizze geboren. Indem ich zu Ihnen nein sagte, hatte ich zu mir ja gesagt …“ Es war eine Erzählung mit dem Titel „In Flammen aufgegangen“. Den Text hatte er, man sah es geradezu, schnell in die Maschine gedonnert und mit handschriftlichen Korrekturen versehen. Ich war natürlich stolz. Welches Theater hat schon einen Originalbeitrag von Bernhard fürs Programmbuch? Kurioserweise hat niemand, auch kein Kritiker, wahrgenommen, dass die Erzählung „In Flammen aufgegangen“ die Heldenplatz-Problematik schon vorweggenommen hat.

Zum Schluss versinkt Wien

Ja, im Traum ist „dieses widerwärtige, nur mehr noch bestialisch stinkende Österreich … vor meinen Augen in Flammen aufgegangen und abgebrannt“. Aber eigentlich erzähle ich die Geschichte aus einem anderen Grund. Denn diese schöne Ambivalenz von Nein zu Ja habe ich bei Bernhard öfter erlebt. Ein Beispiel aus unsrer Burgtheater-Zeit: Im Herbst 1987 planten wir, die Dramolette „Der deutsche Mittagstisch“ auf dem Lusterboden herauszubringen. Die Besetzung war mit Susi Nicoletti, Annemarie Düringer, Maresa Hörbiger, Frank Hoffmann, Rudolf Melichar wirklich gut. Und plötzlich, zwei Tage vor Probenbeginn, läutet das Telefon und Peymann sagt mir: „Bernhard will nicht, dass wir den ,Mittagstisch‘ machen, er ist absolut dagegen.“ – „Wieso denn?“ – „Er denkt, man könnte denken, er würde sich an die aktuelle Waldheim-Geschichte opportunistisch dranhängen.“

Kurt Waldheim, der es mit seiner NS-Vergangenheit nicht so genau genommen hatte, war 1986 zum Bundespräsidenten gewählt worden ...

Die Dramolette waren lange vorher entstanden, sie hatten mit einer Grundstimmung in Österreich zu tun, aber gar nicht speziell mit Waldheim. Bernhard wollte jedenfalls nicht als ein Trittbrettfahrer der Aktualität erscheinen. Am späten Nachmittag gab es in der Burg ein Treffen mit ihm. Alle schlichen um den heißen Brei, keiner wagte, das Thema anzusprechen. Und dann sagte Bernhard lakonisch: „Also, das machen wir nicht.“ Und ich sagte nur: „Dann hat Vera Sturm umsonst gearbeitet.“ Ich wusste, dass Bernhard sie sehr schätzte. Sie war auch die Dramaturgin von „Ritter Dene Voss“ gewesen. Bernhard wechselte sofort das Thema, sagte aber etwas später wiederum: „Gut, wir machen es!“ Darauf gingen wir ins Eckel essen!

„Der deutsche Mittagstisch“ war ein Renner.

Der „Mittagtisch“ ist zur meistgespielten Inszenierung in der gesamten Geschichte des Burgtheaters geworden! Es gab insgesamt 247 Vorstellungen bis zum 30. Juni 1999.

Wieso war Bernhard gegen den „Mittagstisch“ – wenn er dann „Heldenplatz“ schrieb? Er goss damit ja richtig Öl ins Feuer der Waldheim-Debatte.

Richtig, in „Heldenplatz“ wird Waldheim als „widerlicher, verlogener Charakter“ bezeichnet. Aber das Stück entstand vielleicht aus einem anderen Impuls. Erst hatte Peymann Bernhard aufgefordert, ein Stück zum Bedenkjahr 1988 zu schreiben. Das hat Bernhard vehement abgelehnt – und er hat einen Gegenvorschlag gemacht, mit dem Peymann beim damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky hätte vorstellig werden sollen. An allen Wiener Häusern oder Geschäften, die einst Juden gehört hatten, sollte das Schild angebracht werden: „Dieses Haus ist judenfrei.“ Ein ungeheuerlicher Vorschlag, das hätte ein großes Erschrecken gegeben. Warum Bernhard „Heldenplatz“ geschrieben hat, kann ich nur vermuten. Vielleicht pikste der Haken, den Peymann ausgeworfen hatte?

Zum 30. Todestag: "Thomas Bernhard  gehört zur österreichischen Seele"

Bernhard starb drei Monate nach der Uraufführung. Raubte ihm der Skandal die letzten Kräfte?

Er hat ihm sehr zugesetzt, es traf ihn, so beschimpft zu werden. Ganz Österreich erregte sich in üblen Tiraden und Leserbriefkanonaden wochenlang über ihn. Und doch muss man sagen: Das Burgtheaterpublikum hat ihn geliebt! Der Schlussapplaus nach der „Heldenplatz“-Uraufführung währte eine Dreiviertelstunde! Ich hab’ es gestoppt! Strache und Konsorten auf der Galerie konnten das nicht verhindern. Das Stück entpuppte sich als eine große politische Tragikomödie, wir spielten es in der Burg über 120 Mal.

Ein nachhaltiger Erfolg sind auch „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ und zwei weitere Dramolette.

Ende unserer Zeit in Bochum bereiteten wir eine Dokumentation vor. Weil wir ja viel Bernhard gespielt hatten, luden wir ihn ein, etwas für dieses Buch schreiben. Wir waren überrascht, als ein Dramolett – „Claus Peymann verläßt Bochum und geht als Burgtheaterdirektor nach Wien“ – kam. Ich durfte es für den Abschiedsabend inszenieren. Martin Schwab und Kirsten Dene spielten.

Fräulein Schneider, die Sekretärin, packt alles Wichtige in einen Koffer – und in Wien dann wieder aus, darunter die ganze Peymannschaft.

Die Puppen hatte Katrin Brack, heute eine sehr gefeierte Bühnenbildnerin, geschnitzt: Gert Voss, Urs Hefti, Traugott Buhre, Alfred Kirchner, Uwe Jens Jensen und so weiter. Peymann hat die Puppen gleich erworben, so können wir damit auch heute noch spielen.

Sie spielen die Dramolette bereits seit 2006 – in halb Europa und regelmäßig im Akademietheater.

Im Publikum sitzen nicht ja nur die Peymann-Veteranen, sondern auch viele junge Menschen, die unsere Zeit gar nicht unmittelbar erlebt haben. Die Begeisterung ist jedes Mal enorm, die Wirkung erstaunlich. Bernhards pointierte Texte ziehen gleichsam wie ein Schwamm die Wirklichkeit immer neu an.

Im zweiten Dramolett geht Peymann mit Bernhard nach dem Hosenkauf in das Gasthaus „Zauberflöte“. Er will wissen, wer die Gäste sind. Bernhard gibt Auskunft: „Der Vizekanzler, ein Nazi.“ Alle im Lokal sind Nazis oder Dummköpfe. War Bernhard doch kein so großer Übertreibungskünstler?

Er hat beobachtet, er hat etwas gespürt, er war erschrocken. Bei der Szene im Gasthaus gibt es im Publikum immer einen lachenden Aufschrei. Lachen ist eine Form der Erkenntnis. Wenn FPÖ-Politiker sich heute nicht entblöden, immer noch antisemitische Sprüche zu klopfen oder die Nazi-Zeit immer wieder zu verharmlosen, hat man tatsächlich das Gefühl, dass Bernhard es genau trifft. Wenn Politiker den Rechtsstaat in Frage stellen: Was ist denn das anderes als Nazi-Denken? Bernhards Zuspitzungen sind Warnungen. In seinem Stück „Vor dem Ruhestand“ feiert ein Geschwisterpaar jedes Jahr den Geburtstag von Heinrich Himmler. Und da heißt es: „Es wird eine Zeit kommen, wo wir das nicht mehr im Verborgenen feiern müssen.“ So abwegig ist das gar nicht mehr, wenn Politiker des deutschen Bundestags verkünden, dass die Hitler-Nazi-Zeit im Vergleich zur großen deutschen Geschichte „ein Vogelschiss“ sei. Ein Vogelschiss, der Abermillionen Menschen das Leben gekostet und ganz Europa zerstört hat! Oder wenn einer behauptet, dass das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ sei. Dass solche Sätze heute gesagt werden, hätten wir uns vor ein paar Jahren nicht einmal träumen können. Früher musste ein Politiker nach solchen Sprüchen zurücktreten. Heute wird das hingenommen. Man ist bloß indigniert.

Es bräuchte wieder einen Bernhard?

Thomas Bernhard fehlt: Das hat schon vor vielen Jahren Otto Schulmeister, ehemaliger Herausgeber der Presse, in einem Kommentar festgestellt. Es stimmt. Es fehlt einer, der Klartext redet. „Heldenplatz“ zum Beispiel ist Klartext. Bernhard wurde und wird oft als Österreichhasser abgetan, als sogenannter Nestbeschmutzer, als Querulant oder Psychopath. Das sagen jene, die sein Werk bis heute nicht kennen. Aber die Menschen, die sein Werk kennen, wissen, dass er – wie Johann Nestroy, Karl Kraus, Georg Trakl, Christine Lavant und Ingeborg Bachmann – zur österreichischen Seele gehört. Thomas Bernhard hat Österreich geliebt. Sein Alter Ego im Roman „Alte Meister“ sagt es uns: „Sie können nicht wissen, wie ich unser Land liebe, aber ich hasse diesen gegenwärtigen Staat zutiefst … ein so schönes Land und ein so abgrundtiefer moralischer Morast, ein so schönes Land …!“

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