Ein Kunstschatz aus dem Wirbelsturm: Moderne aus der Ukraine in Wien
Die Reise der Bilder war höchst riskant, erzählt der Kurator Konstantin Akinsha.
Als die zentralen Werke der Wanderausstellung „In the Eye of the Storm“ im November 2022 zu ihrer ersten Station im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid gebracht werden sollten, startete Russland eine seiner bis dahin heftigsten Bombardierungen der Ukraine.
Die Lage war höchst angespannt. Doch der erste große Kulturexport in Zeiten des Angriffskriegs funktionierte.
Nun, kurz vor dem zweiten Jahrestag der russischen Invasion, eröffnet die Ausstellung im Unteren Belvedere in deutlich erweiterter Form: Mehr als die Hälfte der Exponate wurde neu aus der Ukraine herangeschafft, neben dem Nationalen Kunstmuseum der Ukraine in Kyjiw kamen auch Leihgaben aus Charkiw, Odessa oder Dnipro nach Wien.
Internationale Sprache
Es ist vor allem die erste Sektion der grob chronologisch angelegten Ausstellung, die von dieser Erweiterung profitiert: Hier wird die Frühgeschichte der Moderne in der Ukraine erzählt – die Kunstgeschichte um 1900, als Strömungen wie Impressionismus und Symbolismus Furore machten und sich sogenannte Secessionsbewegungen von akademischen Stilschulen lossagten.
Wie an vielen anderen Orten wird die Moderne hier als internationale Bewegung greifbar, die sich über Künstlernetzwerke verbreitete und erst in zweiter Linie einen regionalen Dialekt annahm.
Wie Co-Kuratorin Katia Denysova betont, sei daher auch von „Modernismen in der Ukraine“ statt von einem „Ukrainischen Modernismus“ die Rede: „Wir nationalisieren die Kunst nicht.“
Einige Künstler und Künstlerinnen versuchten im frühen 20. Jahrhundert allerdings sehr wohl, die Formensprache für die Heranbildung einer nationalen ukrainischen Identität fruchtbar zu machen.
Oleksa Nowakiwskyj malte etwa schon 1910 „Erwachen“, ein secessionistisches Bildnis eines Mädchens im Nachthemd, das sich den Schlaf aus den Augen reibt – und spielte damit laut Wandtext auf das „nationale und spirituelle Wiedererwachen“ der Ukraine an. Heorhij Narbut, der in München studiert hatte, entwarf 1917 das Wappen für die neu gegründete Ukrainische Volksrepublik. Und viele andere hüllten das Personal ihrer allegorischen Landschafts- und Alltagsbilder in ukrainische Trachten, darunter Fedir Krytschewskyj, der im Gemälde „Familie“ (1925–’27) direkt die Komposition von Gustav Klimts Gemälde „Tod und Leben“ übernahm (siehe Bild unten).
Das Bild stammt aus den 1920er-Jahren Jahren, in denen die Ukraine bereits Teil der Sowjetunion war, innerhalb dieser aber relativ umfassende Möglichkeiten für eine eigenständige kulturelle Repräsentation genoss, wie Kuratorin Denysova erklärt. So wurde dem Land im Sowjet-Pavillon auf der Venedig-Biennale ein eigener Bereich eingeräumt – die Werke, die einst dort gezeigt wurden, sind ebenfalls Teil der Schau.
Die fortschrittlichsten Kunstgattungen, die sich (auch) im Dienst des bolschewistischen Staates betätigten, fanden in der Ukraine entscheidenden Nährboden: Der in Russland geborene, im heutigen Belarus aufgewachsene El Lissitzky studierte in Kyjiw und engagierte sich in der dort aktiven jüdischen „Kulturliga“, bevor er sich der Gruppe um den aus Kyjiw gebürtigen Kasimir Malewitsch anschloss und später die Ideen des Konstruktivismus nach Deutschland brachte. Die Gleichschaltung unter Stalin, der nur noch den „Sozialistischen Realismus“ duldete, machte in den 1930ern der Vielfalt den Garaus.
„Russische“ Avantgarde
Dass die bis heute nachhallenden Formen und Ideen der Aufbruchszeit davor heute primär unter dem Label „Russische Avantgarde“ firmieren, ist laut Akinsha dem westlichen Kunstmarkt geschuldet: In den 1960er-Jahren wollte man der repressiven Sowjet-Ästhetik eine fortschrittliche, auch für Sammler interessante Strömung entgegenstellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe Russland den Begriff quasi geerbt. In der Tat aber war die Moderne stets ein vielgestaltiges Wesen mit vielen Zentren, Schattierungen und Mischformen: Es ist ein Verdienst der Ausstellung, dies augenfällig zu machen.
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