Die hohe Kunst des Rückzugs in die eigenen vier Wände
Literaten und Künstler gewannen der Isolation immer wieder abenteuerliche Aspekte ab.
16.11.20, 05:00
„Welche Verirrung hat mich denn der Versuchung ausgesetzt, alte Ideen zu verleugnen, die gefügigen Phantasmagorien meines Hirns zu verurteilen, sodass ich wie ein richtiger Grünschnabel an die Besonderheit, die Sehenswürdigkeit, den Nutzen eines Ausflugs glaubte? Sieh da“, versetzte er, einen Blick auf seine Uhr werfend, „jetzt ist es Zeit, heimzukehren.“
Mit diesen Gedanken verwirft Floressas des Esseintes, der Protagonist in Joris-Karl Huysmans’ Roman „Gegen den Strich“ (1884), seinen Plan, von Paris an seinen Sehnsuchtsort London zu reisen. Nach dem Besuch einer Kneipe voller grobschlächtiger Briten meint er, alles gesehen zu haben – „man müsste verrückt sein, durch einen ungeschickten Ortswechsel unvergänglicher Eindrücke verlustig zu gehen.“ Also geht es zurück in jenes Landhaus, in dem sich der hypersensible Adelige eine abgeschottete Kunstwelt erschaffen hat: Zwischen künstlichen Blumen, einer juwelenbesetzten Schildkröte, einer Sammlung obskurer Literatur und Kunst sowie einer „Likörorgel“ für Geschmackserlebnisse bekämpft der Ästhet seinen Ekel vor der Welt draußen.
Lockdown-Literatur
„Gegen den Strich“ ist, so könnte man heute sagen, ein Klassiker der Lockdown-Literatur: Vor dem Hintergrund einer rauen Realität und einer als „dekadent“ empfundenen Elite exerzierte das Buch die Flucht in Gegenwelten vor und zeigte gleichsam ihre Limits auf. Im 19. Jahrhundert gab es dafür so manche Vorbilder – berühmt ist etwa der Bayernkönig Ludwig II., der 1881 an den Vierwaldstättersee reiste, um die Gründungsorte der Schweiz zu besichtigen: Tatsächlich verschanzte er sich dann auf einem Schiff und ließ sich Verse aus Schillers „Wilhelm Tell“ vorlesen.
Malerfürsten wie Hans Makart in Wien, Franz von Stuck in München oder Lawrence Alma-Tadema in London waren mit ihren inszenierten Villen und Ateliers zugleich Ausstatter und Trendsetter solcher Lebenswelten, in denen die Kunst die Wirklichkeit überblendete. Bürgerliche Interieurs jener Zeit strotzten vor Requisiten, die von der kulturellen Gewandtheit, aber nicht unbedingt von der Mobilität und Reisefreudigkeit Zeugnis ablegten.
Als der französische Offizier und Schriftsteller Xavier de Maistre 1794 sein Buch über die „Reise um mein Zimmer“ veröffentlichte, war von derlei Opulenz noch wenig zu spüren: Wegen eines unerlaubten Duells 42 Tage unter Hausarrest gestellt, begann de Maistre die sein Umfeld genau zu inspizieren. Den vollmundigen Reiseberichten seiner Zeit stellte er die Freude an Dingen gegenüber, die ihn, wie er zu Beginn seiner Erkundungen stolz betonte, nichts kosteten: „Ein gutes Feuer, Bücher, Federn – was für Hilfsmittel gegen die Langeweile.“
De Maistre hatte allerdings durchaus Gemälde und andere Dinge zu bewundern – so wie andere, die seinem Beispiel später folgten. Der einstige Wiener Kunsthallen-Chef Gerald Matt veröffentlichte etwa 2010 im Geist de Maistres ein Buch mit Aufnahmen seiner mit sorgfältig inszeniertem Sammelsurium gefüllten Wohnung.
Zuletzt inspizierte Karl-Markus Gauß in dem Buch „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ (2019) einfache Habseligkeiten – und nutzte sie als Startrampe zu persönlichen und gesellschaftlichen Erkundungen, die stets auch von eigenen Reisen und Erfahrungen informiert waren.
Die simplen, aber symbolkräftigen Dinge scheinen vielen von uns jedoch heute abhandenzukommen zu kommen: Durch die Digitalisierung und die Illusion ständiger Verfügbarkeit griff zuletzt ein neuer Minimalismus um sich. Die japanische Aufräum-Ratgeberin Marie Kondo propagierte in Büchern und einer Netflix-Serie, alles wegzuwerfen, was nicht sofort ein Gefühl der Freude auslöst.
Dass dies nun auf uns zurückfällt, unterstrich ein Cartoon, der während des Lockdowns im April im New Yorker erschien. Ein Paar steht darin in einem fast leeren Zimmer: „Ich wünsche dir viel Spaß, in den nächsten Monaten deine sieben T-Shirts auseinander – und wieder zusammenzufalten, Robert“, sagt die Frau.
Die künstlichen Gegenwelten, in die einst ein Des Esseintes abtauchte, haben sich ihrerseits entmaterialisiert, sind in Streams, Games und zunehmend auch in Virtual-Reality-Umfeldern zu finden. Sie können – zumindest vorerst – aber nicht so eigenständig gestaltet werden wie ein sorgfältig kuratierter Wandschrank oder eine Kunstsammlung. Und so ist der Lockdown vielleicht auch eine Möglichkeit, noch einmal durch unsere Zimmer zu reisen und den Wert der Dinge, an denen wir uns aufrichten, neu zu bestimmen.
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