Wieder Debatte ums Neujahrskonzert: Die Philharmoniker haben eine Frau gefunden
In vier Monaten ist Weihnachten schon wieder vorbei – und bald Neujahr. Und damit wieder Zeit für die alljährlichen Neujahrskonzertdebatten, die dieses Mal schon im Sommer ein Vorspiel haben. Mit einiger Verspätung wird nämlich nun in den Sozialen Medien herumgereicht, was die Wiener Philharmoniker schon Mitte August in Salzburg bekanntgaben: dass am 1. 1. 2025 Riccardo Muti das erste Werk einer Komponistin in der Geschichte des Neujahrskonzerts dirigieren wird. Beim Prestigetermin im Musikverein gab es bisher nur Strauß und themenverwandte Männer zu hören.
Nun also erstmals ein Werk einer Frau – welches und von welcher, wurde noch nicht verraten.
Darauf gibt es eine naheliegende Reaktion, die auch prompt die Online-Debatte beherrscht: Ernsthaft, erst jetzt?
Die Philharmoniker-Kommunikationsstrategie, dass es ja nicht aufs Geschlecht des Tonsetzenden, sondern auf die Qualität ankomme, mutet gerade beim TV-Event Neujahrskonzert schal an: Dieses wird alljährlich von der gleichen Genialitätsbehauptung in Richtung Strauß’scher Musik begleitet, die ja wirklich besonders großartig sei, wenn man nur mit geschultem Ohr am Unterhaltungsfaktor vorbeizuhören vermöge.
Aber gerade diese Aufforderung, Qualität aktiv zu erhören, wäre doch auch wunderbar auf das vielfältige Schaffen von Komponistinnen zu übertragen: Es gibt – auch aus der Zeit Strauß’ – viele Frauen, die von der männerdominierten Klassikwelt ignoriert wurden und einer Wiederentdeckung zuzuführen wären. Das zu zeigen, dafür gibt es dankenswerter Weise einige Initiativen.
Die nunmehr geführte Debatte aber fordert in ihrer Verkürzung auch eine andere Reaktion heraus. Die Kritik am Neujahrskonzert hat etwas Mechanisches, es ist Schablonen-Kritik quasi im Vorbeifahren: Das Neujahrskonzert ist für manche, die sich nun äußern, das einzige von ihnen wahrgenommene Klassikkonzert des Jahres.
Aber auch wenn am 1. 1. ein Werk einer Frau – vielleicht auch einmal von einer Dirigentin geleitet, Mirga Gražinytė-Tyla ist hier wegen ihres kommenden Abokonzertes in Pole Position – zu hören sein wird, ist der sexistische Klassikbetrieb noch lange nicht im Heute angekommen. Und wer sich wirklich um Musikerinnen, Komponistinnen und Diskriminierungen bekümmert, tut der Sache mit reichweitenträchtiger Empörung aus Anlass eines Großevents nichts Gutes. Man verfängt sich hier im Meinungspopulismus.
Wo wirklich refomriert werden müsste - und reformiert wird
Denn der Betrieb muss eigentlich viel, viel weiter unten reformiert werden – und ja, das passiert längst, vor allem an den Ausbildungsstätten. Wenn es in Zukunft noch ein Klassikpublikum geben wird, das sich über das Gefühlstouristische hinaus mit dieser Musik beschäftigt, werden Veränderungen selbstverständlich kommen müssen.
Wer aber nicht nur Tugend-Show in den Sozialen Medien macht, sondern wirklich den verdienten Raum für Komponistinnen einfordert, der sollte sich für ein Orchester einsetzen, das viel mehr für die wirkliche Öffnung des Betriebs getan hat, selbstverständlich Werke von Frauen spielt und für ein heutiges Bild der Klassikwelt steht – und dessen Zukunft mal wieder in den Sternen steht: Das Radiosymphonieorchester des ORF hat immer noch keine neue Chefdirigentin, obwohl Marin Alsop mit Sommer 2025 geht.
Wenn dieses Orchester einmal wirklich eingespart wird, ist das auch für weibliche Musikschaffende um vieles bitterer – und wichtiger als die Frage, ob am 1. 1. das Werk einer Komponistin zu hören ist oder nicht.
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