Im Handumdrehen reagierte auch der englische Sänger Billy Bragg, der sich selbst in der Linie linker Arbeiterliedsänger positioniert, auf den Hype: "Rich Men Earning North of A Million" heißt das rasch aufgenommene Lied, das auch phonetisch an Anthonys Song anspielt. Im Text bezeichnet Bragg den von Rechten angefeuerten "Kulturkampf" als Ablenkungsmanöver, der letztlich nur den Status Quo beibehält. Auch die Debatte um Transgender-Toiletten und Ähnliches ist für Bragg nur ein Nebenschauplatz, der Aufmerksamkeit von den zwingenden Problemen nimmt: "You want to talk about bathrooms while the flood waters rise, The forest is on fire and the wind burns our eyes".
Dem in Anthonys Song strapazierten Klischees des Übergewichtigen, der Sozialhilfe kassiert, hält Bragg entgegen, dass das US-Gesundheitssystem viele Menschen mit Gesundheitsproblemen alleine lässt und dass oft nur Symptome bekämpft werden - etwa it Opioiden, die süchtig machen: "If you’re struggling with your health, putting on the pounds Doctor gives you opiates to help you get around / Wouldn’t it be better for folks like you and me If medicine was subsidised and healthcare was free?"
Organisiert euch!
Der Weg aus der Misere lautet für Bragg (im Refrain): Organisiert euch, tretet einer Gewerkschaft bei, kämpft für bessere Löhne. Die Chancen, dass der Song auf einem Parteitag einen Resonanzraum erhält, stehen entsprechend schlecht. Unwahrscheinlich ist auch, dass politische Interessensgruppen den Song durch gezielte bezahlte Downloads in die Charts pushen könnten - dergleichen vermutete ein Analyst des Guardian beim Charterfolg von Anthony sowie zuvor beim kontroversiellen Song "Try That In A Small Town" des Sängers Jason Aldean, ein exakter Beweis steht freilich aus.
Es bleibt die Frage, wie viel "Stimme des Volkes" die neuen Polit-Hits, die in Form und Arrangement an traditionelle Folk- und Country-Formate anschließen, tatsächlich transportieren. Der Umstand, dass einzelne Inhalte von den politischen Kräften instrumentalisiert, Botschaften aus Songs über Gebühr aufgeblasen werden. hat jedenfalls eine lange Tradition - gerade in der amerikanischen Country Music.
Als Blaupause gilt der Song "Okie from Muskogee" von Merle Haggard, der 1969 als Reaktion auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg entstand - und aus der Perspektive eines "einfachen Mannes" gegen die Hippies agitierte. In Muskogee, also im Herzen Amerikas, würde man nicht Marihuana rauchen und seinen Einberufungsbefehl verbrennen, sang Haggard nicht ganz unähnlich wie Aldean heute - dass er allerdings eine humorvolle Klinge schwang, die Hinterwäldler und Hippies gleichermaßen ironisierte, ging vielen seiner "Fans" verloren.
Schall und Rauch
Später sagte Haggard, der Song sei ursprünglich ein Witz gewesen. Und nahm mit seinem alten Kumpel Willie Nelson die Marihuana-Hymne "It's All Going to Pot" auf.
Die Linien zwischen rechts und links, konservativ und progressiv sind also auch in der US-amerikanischen Musik nicht immer so eindeutig gezogen - manche, darunter die Country-Queen Dolly Parton, machen überhaupt einen großen Bogen um die Politik, andere - aktuell etwa der Sänger Jason Isbell - äußern sich prononciert zu Themen wie Waffengewalt oder Armut, in Songs wie in Interviews. Es lohnt jedenfalls, genau hinzuhören und zu beurteilen, ob die Hemdsärmeligkeit und Lebensnähe der Musik authentisch ist - oder ob sie eher im Blick auf eine Zielgruppe vorgetäuscht wird. Und ja, manchmal werden authentische Äußerungen auch ganz einfach vereinnahmt.
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