Das aktuelle Medium der Polit-Debatte: Der gute alte Folksong

Oliver Anthony
Lieder, die politische Standpunkte vertreten, erhalten derzeit massive Aufmerksamkeit - zumindest in den USA. Eine Einordnung

Man kannte es zuletzt eher von YouTubern und vielleicht noch von HipHop-Stars: Der eine sagt etwas, der andere reagiert mit einem Video darauf oder nimmt einen neuen Rap-Track mit einer Antwort auf. Dass einer zur Akustikgitarre greift und sich vors Mikro stellt, um tagesaktuelle Kommentare zur politischen Lage abzusingen, hatte man eher in einer vergangenen Zeit abgelegt - bei den Hippies und Folkies der späten 1960er und 1970er Jahre vielleicht. Aber nein: Diese Praxis stellt sich gerade als brandaktuell heraus, zumindest in den USA.

Der Grund: Eine gesellschaftlich angespannte Lage, der Vorwahlkampf und die Eigendynamik von sozialen Medien und Chart-Ermittlungsmechanismen haben politisch aufgeladene Songs in den vergangenen Wochen mehrfach an die Spitze der Charts und der medialen Aufmerksamkeit gespült. Aktuell ist es der Song "Rich Men North of Richmond" von Oliver Anthony, der in der republikanischen TV-Debatte als Beleg für die Sorgen des "einfachen Mannes" hervorgeholt wurde - ein Missverständnis, wie der bärtige Interpret, der bisher laut Eigenangaben buchstäblich ein Hinterwäldler-Leben ohne Strom im US-Staat Virginia führte, beteuert.

Mehr lesen: Der Kulturkampf erfasst die Popcharts - und ein Sänger wehrt sich

Im Handumdrehen reagierte auch der englische Sänger Billy Bragg, der sich selbst in der Linie linker Arbeiterliedsänger positioniert, auf den Hype: "Rich Men Earning North of A Million" heißt das rasch aufgenommene Lied, das auch phonetisch an Anthonys Song anspielt. Im Text bezeichnet Bragg den von Rechten angefeuerten "Kulturkampf" als Ablenkungsmanöver, der letztlich nur den Status Quo beibehält. Auch die Debatte um Transgender-Toiletten und Ähnliches ist für Bragg nur ein Nebenschauplatz, der Aufmerksamkeit von den zwingenden Problemen nimmt: "You want to talk about bathrooms while the flood waters rise, The forest is on fire and the wind burns our eyes".

Dem in Anthonys Song strapazierten Klischees des Übergewichtigen, der Sozialhilfe kassiert, hält Bragg entgegen, dass das US-Gesundheitssystem viele Menschen mit Gesundheitsproblemen alleine lässt und dass oft nur Symptome bekämpft werden - etwa it Opioiden, die süchtig machen: "If you’re struggling with your health, putting on the pounds Doctor gives you opiates to help you get around / Wouldn’t it be better for folks like you and me If medicine was subsidised and healthcare was free?"

Organisiert euch!

Der Weg aus der Misere lautet für Bragg (im Refrain): Organisiert euch, tretet einer Gewerkschaft bei, kämpft für bessere Löhne. Die Chancen, dass der Song auf einem Parteitag einen Resonanzraum erhält, stehen entsprechend schlecht. Unwahrscheinlich ist auch, dass politische Interessensgruppen den Song durch gezielte bezahlte Downloads in die Charts pushen könnten - dergleichen vermutete ein Analyst des Guardian beim Charterfolg von Anthony sowie zuvor beim kontroversiellen Song "Try That In A Small Town" des Sängers Jason Aldean, ein exakter Beweis steht freilich aus.

Es bleibt die Frage, wie viel "Stimme des Volkes" die neuen Polit-Hits, die in Form und Arrangement an traditionelle Folk- und Country-Formate anschließen, tatsächlich transportieren. Der Umstand, dass einzelne Inhalte von den politischen Kräften instrumentalisiert, Botschaften aus Songs über Gebühr aufgeblasen werden. hat jedenfalls eine lange Tradition - gerade in der amerikanischen Country Music.

Als Blaupause gilt der Song "Okie from Muskogee" von Merle Haggard, der 1969 als Reaktion auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg entstand - und aus der Perspektive  eines "einfachen Mannes" gegen die Hippies agitierte. In Muskogee, also im Herzen Amerikas, würde man nicht Marihuana rauchen und seinen Einberufungsbefehl verbrennen, sang Haggard nicht ganz unähnlich wie Aldean heute - dass er allerdings eine humorvolle Klinge schwang, die Hinterwäldler und Hippies gleichermaßen ironisierte, ging vielen seiner "Fans" verloren.

Schall und Rauch

Später sagte Haggard, der Song sei ursprünglich ein Witz gewesen. Und nahm mit seinem alten Kumpel Willie Nelson die Marihuana-Hymne "It's All Going to Pot" auf.

Die Linien zwischen rechts und links, konservativ und progressiv sind also auch in der US-amerikanischen Musik nicht immer so eindeutig gezogen - manche, darunter die Country-Queen Dolly Parton, machen überhaupt einen großen Bogen um die Politik, andere - aktuell etwa der Sänger Jason Isbell - äußern sich prononciert zu Themen wie Waffengewalt oder Armut, in Songs wie in Interviews. Es lohnt jedenfalls, genau hinzuhören und zu beurteilen, ob die Hemdsärmeligkeit und Lebensnähe der Musik authentisch ist - oder ob sie eher im Blick auf eine Zielgruppe vorgetäuscht wird. Und ja, manchmal werden authentische Äußerungen auch ganz einfach vereinnahmt.

Kommentare