Autorin Valerie Fritsch: "Schmerzlosigkeit ist ein Alptraumzustand"
Die Aufmerksamkeitskurve ging steil nach oben, so steil, wie man es in der Literatur noch immer mit Erstaunen ansieht: Mit „Winters Garten“ hat sich die österreichische Autorin Valerie Fritsch 2015 ins Rampenlicht geschrieben.
Am morgigen Montag nun erscheint der Nachfolger: „Herzklappen von Johnson & Johnson“ (Suhrkamp). Er handelt von den vielfältigen Schmerzgeschichten einer Familie: Einem Kind, das – genetisch bedingt – keinen Schmerz verspürt. Großeltern, die ihr Leben lang mit dem Schmerz aus dem Krieg kämpfen. Und Alma, die sich mit allem zurecht finden muss.
KURIER: Es ist das Buch nach dem großen Erfolg. Macht das das Schreiben schwieriger?
Valerie Fritsch: Der erste Gedanke daran ist natürlich wie ein großer Berg. Aber ich habe mich gleich davon verabschiedet, dass das Relevanz hat. Dementsprechend habe ich versucht, das mit heiterer Gelassenheit und sehr viel Zeit zu umgehen.
Zeit ist ein gutes Stichwort. In so gut wie jeder anderen Kulturform folgt auf einen Erfolg wie „Winters Garten“ ganz schnell ein neues Produkt, um in der Aufmerksamkeit zu bleiben. In der Literatur vergehen da aber auch mal fünf Jahre.
Ich war fast eineinhalb Jahre mit „Winters Garten“ beschäftigt, es gab wahnsinnig viele Lesungen. Und dann habe ich es sehr genossen, abzutauchen. Der Schreibprozess ist wie ein Tiefseetauchgang, wo man sich mit all den Wunderlichkeiten und merkwürdigen Recherchen alleine beschäftigen kann. Und wenn das Buch fertig ist, taucht man auf – in den Trubel.
Was ist besser?
Das ist nicht zu vergleichen. Aber ich bin lieber hinter den Buchstaben.
Valerie Fritsch, geboren 1989 in Graz, wo sie auch lebt. Großer Erfolg 2015 mit „Winters Garten“, sie erhielt zwei Auszeichnungen beim Bachmann-Preis in Klagenfurt.
Das neue Buch
„Herzklappen von Johnson & Johnson“ erscheint am Montag bei Suhrkamp. Im Zuge der Recherchen fuhr Fritsch 16.000 Kilometer mit dem Auto von Graz nach Kasachstan.
Der Doppelpunkt
Schriftstellerin, Photokünstlerin steht auf ihrer Visitenkarte. Und: „Liebhaberin des Doppelpunkts“. Stimmt das noch? „Die Liebe ist etwas abgekühlt“, sagt Fritsch. Gibt es Ersatz? „Mein allerliebstes Satzzeichen ist der Punkt. Er ist streng und präzise. Ich liebe das.“
Dort waren Sie jetzt ganz schön lang!
Ich habe mir viel Zeit genommen. Kriegsgeschichten erfordern große Sorgfalt und Präzision.
Und das Buch erforderte viele Kilometer.
Ich habe mir gegönnt, diese Reise nach Kasachstan, die im Buch vorkommt, selbst zu machen. Es war die epischste Reise, die ich je unternommen habe. Ich habe mir Distanzen Stück für Stück erarbeitet, gesehen, wie sich Landschaften langsam verschieben, wie Kulturen anders werden, nur der Himmel immer der gleiche bleibt. Ich konnte jeder merkwürdigen und dunklen Straße nachfahren, die, um Dinge zu entdecken, die allerbesten sind.
Wenn sich ein Autor von Graz aus nach Südosten bewegt, findet er dort manchmal ganz schön viel Ärger. Wie haben Sie denn die Debatte um Peter Handke und den Nobelpreis empfunden?
Als sehr aufgeregt. Ein bisschen schade auch, dass man wenig unterschieden hat, dass es ein Literaturpreis und kein Moralpreis ist. Das ist mir nicht sympathisch – auch wenn ich mit diesen Standpunkten von Handke nicht sympathisiere. Man muss trotzdem unterscheiden, dass man hier nicht für den wunderbaren Charakter, sondern doch für alle Buchstaben, die man so zu bieten hat, ausgezeichnet wird.
In „Herzklappen von Johnson & Johnson“ kommt ein Kind zur Welt, das keinen Schmerz empfindet. Der erste Impuls: ein traumhafter Zustand.
Ich habe mich hineingestürzt, um alles über diese Schmerzlosigkeit zu erfahren. Und herausgefunden, dass das kein Traum-, sondern ein Alptraumzustand ist, wenn so etwas Existenzielles fehlt, das auch beschützt und geleitet.
Und zum Mitgefühl ausbildet: Wer keinen Schmerz fühlt, teilt diesen vielleicht schneller aus. Darf einen das an die wütenden Onlinediskussionen – nicht nur rund um Handke – erinnern?
Schmerz zuzufügen, hat eine andere Stellung bekommen, durch diese digitalisierten, aggressivsten, brutalsten Debatten, in denen Sprache als Gewalt benützt wird. Das hat sicher mit dieser großen Entfernung zu tun: Wenn man nicht nah ist am anderen Menschen, hat man es leicht.
Alma, die Protagonistin des Buches, hat es nicht leicht: Sie steht zwischen dem spät gebrochenen Schweigen der Großeltern über ihren Schmerz, und dem Kind, dem sie mit Erzählungen beibringen muss, was Schmerz ist.
Ja, in der einen Generation versucht man diesem Problem mit Schweigen zu begegnen. Und in der anderen, den Schmerz mit Sprache zu heilen.
Das neue Buch handelt in der jüngeren Vergangenheit. Ein Gegenprozess zu „Winters Garten“, in dem es um eine nahe dystopische Zukunft geht?
„Winters Garten“ hat die Schatten in die Zukunft geworfen. Und jetzt habe ich mir die Vergangenheit angeschaut, die die Schatten in die Gegenwart wirft. Eine ganze Zeitreise. Von der Idee bis zum fertigen Buch hat sie vier Jahre gedauert.
Wie hört man denn mit soetwas auf? Ist das der Verlag, der schreibt, „Frau Fritsch, wir könnten doch mal wieder...“?
(lacht) Nein. Man folgt der Eigengesetzlichkeit des Buches. Man wartet geduldig auf den letzten Satz, trinkt dann einen Schnaps und weiß: Jetzt ist es vorbei.
Ist das dann der letzte Satz des Buches? Oder steht das Finale schon, und man schreibt mittendrin zu Ende?
Der letzte. Man ist selbst ein bisschen überrascht.
Und wie geht es einem dann selbst?
Es ist eine Art von wiedergewonnener Freiheit der Gedanken. Man ist nicht mehr die ganze Zeit besetzt von dieser einen Geschichte. Und hat im Kopf wieder Platz für fremde Geschichten und mehr Wirklichkeit.
Das gibt es beim Schreiben nicht?
Ich bin ein manischer Schreiber, der in der Früh den Computer betritt und abends sehr schwer wieder verlässt.
Aber im Computer lauern doch so fatale Ablenkungen!
Das finde ich wunderbar! Sich hin und wieder in Sinnlosigkeiten zu verlieren, ist absolut essenziell dafür, dass man irgendetwas Sinnvolles schreiben kann.
Haben Sie eine Lieblings-Sinnlosigkeit?
Ich schaue mitunter beim Kochen gerne Reality-Shows an. „Das perfekte Dinner“. Es geht um Gemüse, Fleisch und große Gefühle. Das finde ich herrlich.
Vielleicht nicht immer um Gemüse und Fleisch, aber um große Gefühle geht es in der Literatur auch. Aber die steht schon länger nicht gerade im Zentrum der Gesellschaft. Wie kann man dem begegnen?
Man muss ein Bewusstsein erhalten – und dort, wo keines ist, erschaffen –, dass Literatur eine Möglichkeit ist, Menschen verschiedenartige Welten, und damit auch verschiedenartige Lösungen und Heimaten anzubieten. Sich mit Dingen zu beschäftigen, die man vorher nicht gedacht hat, ist sehr gesund. Nicht nur als Bildung, sondern auch für die Persönlichkeit. Das macht Räume auf. Man wird mit Fremdem konfrontiert. Und das macht groß und hält nicht klein.
Rezension zu "Herzklappen von Johnson & Johnson": Begeistern, aber nicht berühren
Den Interesse weckenden Buchtitel wird man sich merken. Es wird Freude bereiten, erstmals in Buchhandlungen Herzklappen zu verlangen.
Den Buben, der wegen eines Gendefekts keine Schmerzen spürt – es sind zwei Dutzend Fälle weltweit wissenschaftlich erfasst –, wird man sich vielleicht ebenfalls merken.
Wird man sich an Valerie Fritschs Roman als Ganzes längere Zeit erinnern?
Es ist eine Komposition. Jeden Satz kann man laut vorlesen und ihm zuhören, wie er schwingt. Die Komposition „kann“ Stalingrad und Kriegsgefangenschaft. Und Landschaften „kann“ sie und Menschen, Tod, Sex und Liebe. Sogar für die Sprachlosigkeit hat sich Valerie Fritsch um eine Sprache bemüht. Und der Schluss, dieser Blick auf einen Mann mit Tee in Kasachstan, der ist überhaupt das Beste.
Zwar steht im Klappentext, es gehe um Verletzlichkeit: Wie jemand ein mitfühlender Mensch werden soll, wenn er nichts spürt ...
Aber Schweigen ist das größere Thema. Es schweigt der Körper des Buben, es schweigen die Erwachsenen, ganz laut wird geschwiegen, wenn es ums Morden und Sterben im Krieg geht.
Warm wird einem dabei nicht, das Buch öffnet keine Türen, höchstens den Mund des Lesers öffnet es zu einem Staunen: Valerie Fritsch begeistert.
Berühren kann sie nicht. Oder will sie nicht. Wahrscheinlich will sie nicht. Man wird sich an den Roman nicht längere Zeit erinnern.
Valerie Fritsch: „Herzklappen von Johnson & Johnson“, Suhrkamp, 174 Seiten. 22,70 Euro
KURIER-Wertung: **** von fünf Sternen
Peter Pisa
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