Wie eine Dichterin zum heimlichen Star der Amtseinführung wurde
Der mächtigste Mann der Welt hört bei seiner Machtübernahme einem Gedicht zu. Es ist bald fünf Minuten lang, vorgetragen wie ein Spoken-Word-Essay irgendwo zwischen Erbauungspoesie und Identitätslyrik.
Eine Art Mission Statement, ein grundlegender Text ausgerechnet darüber, was der mächtigste Mann mit seiner Macht erreichen kann und soll. Was das so soll mit den Vereinigten Staaten und dem Zusammenleben und der eigenen Geschichte und den dunklen Stunden, die man soeben gemeinsam durchgemacht hat. Vorgetragen von einer 22-Jährigen.
Und es ist ausgerechnet dieser auf vielerlei Art schutzlose Moment während der Amtseinführung Joe Bidens, der besonderen Niederschlag findet. Es war das Wort stärker als Lady Gagas hochgedrehte Hymne und Jennifer Lopez’ auf Emotion getrimmter Songbeitrag.
„The Hill We Climb“ von Amanda Gorman hat nach Jahren, in denen der US-Präsident und das Lesen auf Kriegsfuß standen, in denen Social-Media-Schnipsel mehr Gewicht erhielten als ausformulierte Meinung von Fachleuten, das geschriebene Wort wieder ins Zentrum der Macht geholt. Die Symbolkraft dessen ist enorm, insbesondere auch in dieser für die Kultur so schwierigen Zeit.
Prominenz und berührende Momente bei Bidens Inauguration
Das andere andere
Gorman hat in dem Gedicht ihre eigene Biografie als von Sklaven abstammend, von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, herausgestellt. Und damit eine Biografie aus dem anderen anderen Amerika, jenes vom Rand – den Küsten, den Minderheiten –, das in den vergangenen Jahren in fast fatale Erklärungsnot über die eigene Existenzberechtigung gedrängt wurde. Der Vortrag war in Inhalt und Stil eine Erinnerung daran, dass es die Vielfalt braucht, um Amerika wieder groß zu machen.
Gorman hat, mit vielen Alliterationen und noch mehr Wortklang-Spielen, eine Art Resümee gezogen über, ja, Selbstverständliches, dessen Selbstverständlichkeit aber ins Wanken geraten ist: Die Kraft der Demokratie, die durchaus auch problematischen Nuancen von Geschichte und Gemeinschaft, die Sehnsucht nach „Harmonie für alle“ und das „Licht“, das immer da ist, wenn wir „nur mutig genug sind, es zu sehen“.
Derartig Programmatisches würde in deutschsprachigen Lyrikverlagen wohl mit ziemlich spitzen Fingern angegriffen werden. Und ja, die Amerikaner haben hier exemplarisch eine ihrer zu Unrecht gering geschätzten Stärken bewiesen: dass sie nämlich mit weniger Berührungsangst auf die Inspirationsfunktion von Kunst zugehen.
Man stelle sich das in Österreich vor, wo die Angelobung der Regierung nicht vor dem demokratischen Herzen (dem Kapitol), sondern in den alten Gemächern der verblichenen Macht gefeiert wird: Eine junge Spoken-Word-Performerin, die den Regierenden in der Hofburg ins Stammbuch schreibt, dass sie bitte auf Vielfalt und Gemeinschaft achten und nach höherem Streben sollen. Social Media würde vor „Staatskünstler“-Häme übergehen.
Dunkle Stunden
In Amerika aber sorgt der Auftritt der jungen Dichterin für Furore. Sie hat mit dem Werk gekämpft, sagt sie – und es dann in einem Schwung fertig geschrieben, als der von Trump befeuerte Mob das Kapitol gestürmt hat.
Diese „dunklen Stunden“ fanden sich nun auch im Gedicht der in Los Angeles aufgewachsenen Tochter einer Lehrerin (Gorman studiert nun in Harvard Soziologie).
Lyrik, sagt sie, ist jener Ort, an den wir dann zurückkehren, „wenn wir uns an unsere Geschichte erinnern wollen. Und an jene Zukunft, für die wir eintreten wollen.“
Es sind unzeitgemäße Worte aus jungem Munde. Lyrik als gesellschaftlicher Fokuspunkt? Wann war das zuletzt Thema?
Dass jetzt weltweit über ein Gedicht – ein Gedicht! – gesprochen wird, lädt die Erinnerung an die Kraft der Kultur mit neuer Energie auf. Derartiges wird ja sonst zumeist gebeugten Deutschlehrern und Lyrikern zur Endverwaltung überlassen. Und ja, dass Gormans Lyrik wie alle junge Kultur vom Hip-Hop informiert ist, dass sie auch optisch Heutigkeit ausstrahlte wie niemand anderes während der Inauguration, macht das nur stärker:
Es ist ein erfreuliches Weitertragen eines in Vergessenheit geratenen Gedankens, dass nämlich Kultur eine gemeinschaftsstiftende Säule des Zusammenlebens ist.
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