Alle lügen? Wie ein erfundenes Opfer der Glaubwürdigkeit aller schadet

Sie, liebe LeserInnen, kennen Stefan Gelbhaar sehr wahrscheinlich nicht. Sein Fall muss uns trotzdem interessieren.
Gelbhaar ist deutscher Grünen-Politiker und war für ein Direktmandat auf der Bundestagsliste vorgesehen. Bis mehrere Vorwürfe der sexuellen Belästigung über ihn bekannt wurden. Der schwerwiegendste davon stammt von einer Frau namens Anne K., die ihm per eidesstattlicher Erklärung vorwirft, sie gegen ihren Willen geküsst zu haben.
Nun stellt sich heraus: Der Vorwurf ist erfunden. Gelbhaar wurde verleumdet. Das Ausmaß der Intrige ist sogar noch schlimmer - aber dazu kommen wir später.
Missbrauch als Werkzeug
Es ist nicht der erste prominente Fall, in dem jemand fälschlich der sexuellen Belästigung oder gar sexualisierten Gewalt bezichtigt wird.
Hier geht es heute aber nicht um eine Rehabilitierung der fälschlich Beschuldigten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle direkt zum Punkt kommen: Wer Missbrauch missbraucht, zerstört nicht nur leichtfertig Leben und Karriere von Unschuldigen, sondern spuckt allen echten Opfern ins Gesicht.
Das ist kein dümmlicher Streich. Dahinter stecken Kalkül und das volle Bewusstsein über die Schwere des Delikts- für echte Opfer und den vermeintlichen Täter. Erlogener Missbrauch ist perfides Werkzeug.
Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel
Seit Jahrhunderten kämpfen Frauen und ihre Alliierten für Selbstbestimmung des eigenen Körpers; dafür, dass der weibliche Körper nicht zur freien Verfügung von Männern steht. Erst seit 1989 ist Vergewaltigung in der Ehe verboten. Noch nicht lange gibt es ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass Frauen ihre Grenzen ziehen können. Was früher als selbstverständliches “männliches Verhalten” - ich denke etwa an unerwünschte Berührungen - abgetan wurde, ist endlich problematisiert.
Aber immer noch wird zu vielen Opfern von sexualisierter Gewalt nicht geglaubt. Eine falsche Beschuldigung hat zwar zum kurzsichtigen Primärziel, dem Beschuldigten zu schaden, dabei wird aber die Glaubwürdigkeit aller echten Opfer als Kollateralschaden mitgerissen.
Schnelle Gleichung, schlimmes Ergebnis
Es ist im Grunde so mies wie einfach. Die Gleichung lautet: Jede falsche Beschuldigung, jedes erfundene Opfer schadet der Glaubwürdigkeit von echten Opfern. Punkt.
In den Köpfen der Gesellschaft wiegt eine Lüge oft mehr als viele Wahrheiten. Und genau darin liegt die Gefahr. Das Ergebnis: Das Misstrauen steigt. Es trauen sich wieder weniger Opfer, ihr Schweigen zu brechen.
Der kurze Weg vom falschen Opfer zum Täter
Und nun zur angekündigten, gar nicht witzigen Pointe der Causa Gelbhaar, die mir als Frau und Journalistin einen zusätzlichen Stich verpasst:
Anne K.. Jene Frau, deren Name auf der eidesstattlichen Erklärung des schwerwiegendsten Vorwurfs gegen Gelbhaar steht, existiert nicht. Es wurde nicht nur die Belästigung, sondern auch das Opfer selbst erfunden.
Leider hat aber weder die Ombudsstelle der Partei, noch der RBB; der den Vorfall veröffentlicht hat, nachgefragt oder recherchiert, wer Anne K. ist, ob es sie überhaupt gibt.
Dieser Fall zeigt auf so vielen Ebenen: Wir müssen hinsehen und nachfragen. Ein leichtfertiger Umgang mit Vorwürfen der sexualisierten Gewalt ist fahrlässig für alle. Und: Wer sich an Missbrauch und Opfern bedient, ist dem Täter-Sein sehr, sehr nahe.
"Dauerzustand" ist die Kolumne von Newsdesk-Redakteurin Diana Dauer über die Lebenswelt als kinderlose Millennial-Frau, über das Älterwerden, Schablonen, die man ausfüllen muss und Alltags-Sexismus.
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