Odysseus zwischen Großkopferten und Aluhüten als echtes Volksstück
Zwischen einer Kontrabassistin und einem Akkordeonisten auf der einen Seite der Bühne und drei am Rand sitzenden Schauspieler_innen auf der anderen Seite ein müder, mit dem Kopf auf einem Tisch dösender Alter, der jäh hochfährt und noch einen Liter bestellt. „Du hast genug, genug gesoffen, halt die Klappe!“
Und er in der unausgesprochenen Haltung, „wisst ihr nicht, wer ich bin, ein Held!“ Der Greis beginnt von Heldentaten zu schildern, die sich in jedem Satz als Fantasie herausstellen – Eisbärenjagd in Kalkutta, Seeschlange verführt…
Volksstück
Wir befinden uns auf der ersten Teilstrecke der Irrfahrt des antiken Odysseus – in einem Mix aus Mythos mit vielen aktuellen Bezügen, gekleidet in das Gewand eines Volksstückes à la Dario Fo und Franca Rame, gepaart mit Live-Musik und an einem Ort echter Volksstücke – im Freien an der Peripherie der Stadt. „Odyssee 2021. Erster Knoten“ von Theater Arche im Rahmen des Corona-bedingten Kultursommers „Wien dreht auf“ in der Penzinger Muthsamgasse, wenige Gehminuten von der S-Bahnstation Breitensee entfernt. Die Bühne steht zwischen einer – in den Ferien leerstehenden – Schule und einem Park.
„Nebeneffekt“?
Bevor es mehr zum einstündigen Stück, einem in wenigen Tagen erdig aus dem Boden gestampften Teil eines großen Projekts, das schon von Beginn an fürs kommende Jahr geplant war, gibt ein „Nebeneffekt“ des „Kultursommers“, vielleicht eine der wenigen positiven Lehren aus der Corona-Krise: Der sanfte, Abstands-bedingte Wiederstart des Kulturlebens in Form von „Wien dreht auf“ bringt wunderbare „Neben“effekte mit sich. Da die zwei großen, fünf mittleren und drei kleinen Bühnen an insgesamt 25 öffentlichen Plätzen verteilt sind, kommt Kultur an Menschen heran, die sie sonst kaum bis nie erreicht.
„Zaungäste“
Als fast eine Stunde lang eine das Ensemble aus „Arche“-erprobten Schauspieler_innen und der Band SiEA zusammengestellte Gruppe Szenen aus dieser „Odyssee“ in der Muthsamgasse spielte und sang, saß nicht nur das Publikum auf den zugewiesenen Plätzen mit Abstand. Hinter dem niedrigen Zaun des Parks zwischen den Büschen standen Kinder und Jugendliche, hin und wieder auch Eltern oder Großeltern und schauten gebannt lang zu. Manche kommentierten die eine oder andere Szene. Auch auf der anderen Seite, am Zaun entlang der Gasse zwischen Publikumsbereich und der dahinter stehenden Schule blieben Scooter fahrende Kinder interessiert stehen, andere wiesen laute Kollegen sogar an, leise zu sein, weil sie zuhören wollen.
Für viele dieser Zaungäste im wahrsten Sinn des Wortes schien das was sich hier abspielte auch den Zauber etwas ziemlichen Neuen zu beinhalten. Vielleicht wäre es eine Anregung, jenen Teil dieses Kultursommers – auch wenn einmal nicht mehr Abstand erforderlich ist – beizubehalten, Kultur in Außenbezirke zu bringen.
Geplante „Irrfahrt“
Doch nun zur „Irrfahrt“. Schon lange vor Corona hatte Theater-Arche-Co-Leiter Jakub Kavin die Idee zur Odyssee 2021. Ja wirklich, denn da jähren sich Fukushima zum zehnen, 9/11 zum 20. Mal, der Tod von James Joyce zum 80., jener von Fjodor Dostojewski zum 140. und der von Dante Alighieri zum 700. Mal. Zusätzlich liegt die erste Corona-Krise dann ein Jahr zurück, wir befinden uns mitten im Klimawandel. „Und was ist sonst noch los?“, heißt es zur Ankündigung der Premiere am 11. September 2021 auf der Homepage des Theaters.
Ab Oktober diesen Jahres will Theater Arche jedes Monat ein „Teilstück“ der Odyssee an jeweils einem anderen Ort – jedoch idealerweise in Außenbezirken – zurücklegen, bevor am Ende 14 Schauspieler_innen - ein großes Wiener, die Gesellschaft widerspiegelndes Ensemble - an 21 Abenden drei Stunden lang ein immersives Stationentheater spielen.
Großkopferte und Alu-Hüte
Der „Held“ wechselt. Nach dem alten versoffenen Odysseus (Bernhardt Jammernegg) schlüpft Florian-Raphael Schwarz in dessen Rolle, um von den Abenteuern zu erzählen. In Anklängen an die überlieferte, segelt er vorbei an der Insel der Sirenen – und lässt sich am Sessel (Mast) festbinden, um sich nicht verführen zu lassen. Diese Verführung beginnt beim Operngesang von Manami Okazaki und geht über in Wort- und Satzfetzen gängiger Verschwörungstheorien. Dagegen „wappnet“ sich die Schiffs-Crew mit selbstgebastelten Alu-Hüten.
Neu erfunden trifft Odysseus’ Schiff auf die Insel der Großkopferten – Styropor-Köpfe, die Carlotta Dering für die Band ihrer Tochter Antonia, SiEA angefertigt hat. Hinter den vorgehaltenen überdimensionalen Häuptern sondern die Schauspieler_innen bekannte Sätze und Allerwelts-Phrasen auch weniger bekannter Politiker_innen ab.
Auch der Bezug zum aktuellen Sturz von Statuen darf nicht fehlen. Nahtlos geht’s über zur Insel der Zauber-Göttin Kirke, die Menschen in Tiere – hier nur in Schweine verwandelt. Denn sind nicht alle Schweinereien Teil des menschlichen Wesens?
Was im Schluss-Song dieses ersten Teilstücks der „Irrfahrt“ zur Melodie und zum Beginn der Ode an die Freude wieder aufgenommen wird…
„Odyssee 2021. Erster Knoten“
Theaterstück mit zehn musikalischen Nummern in 60 Minuten.
Im Rahmen des „Wiener Kultursommers 2020“
Idee und Regie: Jakub Kavin
Musikalische Leitung: Algy Ing Ruei-Ran Wu
mit: Antonia Dering, Elisabeth Halikiopoulos, Bernhardt Jammernegg, Manami Okazaki, Florian-Raphael Schwarz und Ruei-Ran Wu
Artwork : Carlotta Dering/ Band SiEA
Regieassistenz: Jona Sarwat
Odyssee 2021
Textcollage von Jakub Kavin – eine TheaterArche Produktion.
Oktober 2020 – August 2021: 11 Performances zu zeitgenössischen Themen – jeweils eine pro Monat – möglichst an 11 verschiedenen Schauplätzen in diversen Bezirken.
Von 11. September 2021 bis 11. November 2021 dann das Finale der Odyssee 2021: Ein Schauspiel – eine Performance – ein interdisziplinäres Kunstprojekt: 3 Stunden Spielzeit, 14 Schauspieler*innen an 21 Abenden.
Nimm dich in acht vor den Cluster, Zusammenschnitt aus dem Stück
"Theater Arche" stellt dem Kinder-KURIER - und damit dir liebe Leserin/ lieber Leser - einen rund sechsminütigen Zusammenschnitt aus der einstündigen Performance zur Verfügung.
Kommentare