Stück über befremdliche Selbstisolation wird (sur-)real

Neieieien - ich halte das nicht auauauaussss
„Hikikomori“ der „TheaterArche“ bekommt unfreiwillige höchst aktuelle Bedeutung – ab 29 Mai 2020 unter den neuen (Abstands-)Regeln.

Ein Kinderzimmer mit Puppenküche und Spiel-Teppich mit Verkehrslandschaft, die Solodarstellerin im Kinderpyjama. Nein, ich will nicht groß werden! Aber nicht als eine Art Petra Pan, sondern in der Art: Ich will mit der Welt da draußen nichts zu tun haben. Wobei draußen schon hier drinnen beginnt. Gleich außerhalb der eigenen Haut. Alles drum herum ist böse. Aber nicht das. Das Leben überhaupt. Auch im eigenen Inneren, in den „Kopfkatakomben“ … so vielleicht sehr verkürzt und verdichtet die Stimmung, die Szenerie des ca. 1 ½-stündigen Stücks „Hikikomori“. Entwickelt von der „TheaterArche“ (vormals Theater Brett) in der Wiener Münzwardeingasse.

Vor rund einem Jahr geplant, im Herbst mit den Proben begonnen samt Recherche-Reise der Solodarstellerin Manami Okazaki und des Regisseurs Jakub Kavin nach Japan, sollte es ein Stück über ein fremdes, durchaus auch befremdliches Phänomen einer freiwilligen Selbst-Isolation sein. Die geplante Premiere fiel – wie alle Theater- und anderen Veranstaltungen – der auferlegten (Selbst-)Isolation zum Versuch der Eindämmung von Corona zum Opfer.

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Im ewigen Kinderzimmer

Exklusive Vor-Aufführungen

Das Stück war fertig. Nun (in den ersten Tagen des Lockdown) lädt das Theater vereinzelt Journalist_innen zu Voraufführungen ein – eine Schauspielerin, der Regisseur, der die Ton- und Licht-Technik bedient und höchstens drei Gäste – da bleibt weit, weit mehr als der Mindest-Abstand zwischen den fünf Leuten im Theaterraum. Zu diesen Voraufführungen haben sich die Co-Leiterinnen der TheaterArche, die Solo-Darstellerin und der Regisseur, entschlossen, weil das Thema so – unfreiwillig – hochaktuell geworden ist.

Und hat davon - auch wenn nunab Ende Mai 2020 Publikum begrenzt zugelassen ist - nichts davon verloren.

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Zurückziehen, sich verstecken

Was seit vielen Jahren in Japan unter dem Begriff „Hikikomori“ verbreitet ist, wird zum – allerdings unfreiwilligen – weltweiten (zeitweisen) Massenphänomen. Der aus Japan stammende Begriff setzt zwei Wörter zusammen: Hiki (zurückziehen) und komori (sich verstecken). Damit wird eine Volkskrankheit vor allem männlicher Jugendlicher bzw. mittlerweile nicht mehr nur junger Erwachsener in diesem ostasiatischen Land bezeichnet. Selbst 50-Jährige gibt‘s, die nur in ihrem Zimmer leben, von 80-jährigen Eltern das Essen vor die Tür gestellt kriegen und bestenfalls später dort die leeren, schmutzigen Teller abstellen. Und das alles natürlich längst vor Corona/Covid19.

Dass Manami Okazaki Musikerin und Sängerin japanische Wienerin bzw. Wiener Japanerin ist, bracht ihren Co-Direktor Jakub Kavin auf die Idee, gemeinsam mit ihr ein Stück zu diesem Phänomen zu entwickeln. Das war vor fast einem Jahr. Die ersten Proben begannen im Herbst – KiKu und schauTV berichteten. Die Premiere war Mitte März geplant. Noch in der Woche davor hoffte man, galt damals, unter 100 Gästen möglich. Wenige Tage danach: Aus, (Selbst-)Isolation, räumliche Distanz - meist als social distancing bezeichnet, mit einer viel weitgehenderen Bedeutung.

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Hineinziehen

Genau aber die soziale Distanzierung, ja Abschottung ist Kern von Hikikomori – der Krankheit UND des Stücks. Bisherige Versionen eines Stückes zum Thema – Holger Schober schrieb und spielte vor mehr als zehn Jahren ein Stück im (übrigens nahe gelegenen) Theater an der Gumpendorfer Straße (TAG), Jugendliche Gruppe aus dem Grazer Theater am Ortweinplatz (taO!) eine eigene, ziemlich andere, aber fast treffendere jungen Version – vermittelten Blicke von außen auf einen freiwillig Zurückgezogenen. Das „TheaterArche“-Stück, vor allem das Spiel von Manami Okazaki UND natürlich nicht zuletzt die uns allen (selbst) auferlegten „Hausarreste“ zieht uns in ihre Welt hinein. In diese ständige Abwehr des draußen, ja keine Berührung, ja nicht in Kontakt oder auch nur zu nahe kommen. Die über weite Strecken lyrischen Wort- und Gedankenspiele vermitteln eine ganz eigenartige Atmosphäre aus kindlich-philosophischem Spiel – einerseits faszinierend und andererseits irgendwie entrückt.

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Projektionen auf dem Vorhang/der "Wand"

Entrückt

Hinter dem Kinderzimmer, dem zentralen Spielort, beherbergt „Hikikomri“ aber auch noch einen durch dünnen, durchsichtigen Stoff – der mitunter auch Projektionsfläche von Bildern wird - abgetrennten Raum. In den „flüchtet“ sich die Protagonistin, wirkt befreiter, tanzt und singt – und wirkt dennoch immer weit, weit weg. Ganz wenige Moment von Lebensfreude, ja Heiterkeit, lässt sie nur dann aufkommen, wenn sie selten auf ihrem Saxofon spielt. Bevor sie gegen Ende jedoch auch in Richtung Aufbegehren gegen ihr „Gefängnis“ sogar das klassische Etüden-Stück „Für Elise“ in einer wilden Version in die Tasten des Keyboards hämmert – und ... – na alles sei nicht verraten. Irgendwann wird’s ja hoffentlich doch echte Aufführungen für Publikum geben.

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Übrigens

Die Solodarstellerin und Mit-Entwicklerin Manami Okazaki hatte in ihrer Kindheit bzw. Jugend selbst eine fast-Hikikomori-Phase, wie sie dem KiKu im Interview anlässlich der herbstlichen Proben gestand – siehe Link zum damaligen Artikel.

Und: Auch das stand damals in dem Beitrag: Der Text entstand in einer Art Ping-Pong zwischen Sophie Reyer und Thyl Hanscho. Übrigens, so der Zweitgenannte, auch das Text-Schreiben sei eine Art Hikikomori-Stadium einer Autorin oder eines Autors. Allein, zurückgezogen mit deinem Computer. Und das lange vor Corona. Heute müsste so gearbeitet werden.

Das Stück lässt allerdings Ängste aufkommen, ob nicht die psychosozialen Folgen der nunmehrigen gesundheitlich erforderlichen Maßnahmen bislang noch unterschätzt werden.

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Update 22. Mai 2020, 20.22 Uhr

 

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Stück über befremdliche Selbstisolation wird (sur-)real

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Hikikomori
Eine Produktion der Theater Arche

Autor*innen: Sophie Reyer, Thyl Hanscho
Schauspiel und Musik: Manami Okazaki
Regie, Visuals: Jakub Kavin

Regieassistenz: Odilia Hochstetter
Bühne und Technik: Bernhardt Jammernegg, Jakub Kavin

Gemälde: Hiromitsu Kato

Ein besonderer Dank geht außerdem an: Heide Maria Hager, Anna Anderluh, Masaru Yokoyama, Nicole Burger, Sisi und Walter Gaidos, Yuji Gakon und an unserer 59 Unterstützer_innen bei wemakeit.com!

Wann & wo

Ab 29. Mai - bis 4. Juli 2020
unter den neuen Abstands- usw. -regeln
1060 Münzwardeingasse 2a
office@theaterarche.at

Weitere Infos:
Theaterarche -> Hikikomori/

Events.at -> Hikikomori

Manami Okazaki

Hirokato

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