Neue Netflix-Serie: Seltenen Krankheiten auf der Spur
Kamiyah kniet auf einem Teppich, in ihren Händen hält sie eine kleine Cinderella-Figur. "Sie ist hübsch", ruft sie, und setzt das Püppchen in eine Kutsche. Dann kippt das Mädchen um. Wie in Zeitlupe sinkt sie leise keuchend und mit geschlossenen Augen zu Boden. Als würde man einen Lichtschalter umlegen, erwacht Kamiyah nach wenigen Sekunden wieder, setzt sich auf und spielt weiter.
Kamiyah ist sechs Jahre alt und lebt mit einer sehr seltenen Krankheit. Bis zu 300 Mal pro Tag durchfahren das US-amerikanische Mädchen plötzliche, kurzzeitige Lähmungen. Während der Anfälle ist sie bei vollem Bewusstsein, hat aber keine Kontrolle über ihren Körper. "Es fühlt sich an, als würde ich gegen eine Wand fahren", beschreibt das Kind die Lähmungsattacken.
Kamiyahs Zustand ist nicht nur selten, er nimmt ihr auch die unbeschwerte Kindheit. Weil die Anfälle unerwartet und willkürlich auftreten, können normale Alltagssituationen schnell gefährlich werden. Auf den Spielplatz, in den Turnunterricht oder zum Schwimmen lässt ihre Mutter sie deshalb nun ungern.
Kamiyahs außergewöhnliche Geschichte wird in der neuen Doku-Serie "Diagnosis" erzählt. Die kürzlich auf Netflix angelaufene Produktion widmet sich mysteriösen Krankheitsfällen.
Große Hürden
EU-weit leben rund 36 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen, in Österreich sind rund 400.000 Menschen (etwa fünf Prozent der Bevölkerung) betroffen (siehe Infobox ganz unten). "Die 'Seltenen' sind also gar nicht so selten und gewiss kein Nischenphänomen", sagt Rainer Riedl, Gründer und Obmann der Vereins Pro Rare Austria, der sich für Betroffene einsetzt. "Allerdings stellen die Patienten keine homogene Gruppe dar, weil sie sich auf eine Vielzahl von Erkrankungen aufteilen."
Die Herausforderungen im Leben mit einer seltenen Erkrankung seien jedoch für alle ähnlich: "Die Wege zur Diagnose sind lang und verschlungen, es gibt kaum Experten und Therapien", sagt Riedl. Nicht selten werde Betroffenen auch Hypochondrie unterstellt, ihre Beschwerden als Einbildung abgetan.
Diagnose durch "Diagnosis"
Vorbild für die Serie "Diagnosis" ist die gleichnamige Erfolgskolumne von Lisa Sanders. Mit dem Ziel, durch die große Reichweite und die Weisheit der Masse rätselhafte Krankheitsbilder zu lösen, schreibt die Internistin und Professorin der Yale University seit 2002 in der New York Times über schwer zu diagnostizierende Krankheiten – und war damit bereits für die populäre Serie "Dr. House" Pate. Auch mit Kamiyah und ihrer Familie machte sich die Medizinerin auf die Suche nach Menschen, denen es ähnlich geht.
Bis eine seltene Erkrankung diagnostiziert wird, vergehen hierzulande drei bis vier Jahre. "Das gleicht einer Odyssee für Betroffene", sagt Riedl. Dafür verantwortlich sei die mangelhafte Patientenlenkung: "Betroffene werden jahrelang herumgeschickt oder falsch therapiert, was dem Gesundheitswesen viel Geld kostet." Eine solche "Diagnoseodyssee" durchlief auch Kamiyah. Sie wurde vom Hausarzt zum Neurologen, vom Röntgen in die MRT-Röhre geschickt. Kein medizinischer Verdacht, etwa auf einen Gehirntumor, erhärtete sich. Kein Arzt konnte eine plausible Erklärung für ihren Zustand finden.
Nicht allein
Schließlich landete die Familie bei den National Institutes of Health (NIH), eine staatliche US-Behörde für medizinische Forschung. Vor zehn Jahren startete man dort ein Programm für undiagnostizierte Krankheiten, um Patienten mit seltenen Erkrankungen zu helfen. Kamiyah wurde in dieses aufgenommen. Test reihten sich an Test – ohne Ergebnis, wie die Experten der Familie schließlich mitteilten.
Erst durch Lisa Sanders Recherchen kam Bewegung in die Sache. Die NIH klinkten sich wieder in Kamiyahs Akte ein: Ihren Lähmungserscheinungen liege eine Genmutation zugrunde, ließ man die Familie wissen. Für die Familie noch bedeutender: Angeregt durch Sanders Kolumne, meldeten sich etliche Eltern aus allen Teilen der Welt, die von identischen oder ähnlichen Symptomen bei ihren Kindern berichteten.
Bewusstsein schaffen
Wie wichtig es für Menschen mit seltenen Erkrankungen ist, zu erfahren, dass sie mit ihrer Diagnose nicht allein ist, weiß Riedl, dessen Tochter mit der unheilbaren Hauterkrankung Epidermolysis bullosa (Betroffene sind unter Schmetterlingskinder bekannt geworden, Anm.) geboren wurde, aus eigener Erfahrung. "Als unsere Tochter auf die Welt kam, war es für uns enorm wertvoll, zu erkennen, dass wir nicht die Einzigen auf der Welt sind, die sich dieser Herausforderung stellen müssen", erinnert er sich. Die Serie "Diagnosis" begrüßt er: "Das Wichtigste ist die Bewusstseinsbildung. Wenn man das durch mediale Berichterstattung schafft, kann sich die Sichtbarkeit von Betroffenen erhöhen und es kann zu mehr Offenheit und weniger Berührungsängsten kommen."
In Kamiyahs Fall fand man nicht nur weitere Betroffene: Auch die Neurowissenschafterin Andrea Meredith, die Kamiyahs seltene Genmutation seit über 20 Jahren erforscht, wurde auf die Geschichte aufmerksam. Ein Glücksfall, denn für rund 95 Prozent aller seltenen Erkrankungen existieren derzeit weder Medikamente noch Therapien. "Und wenn, dann sind sie extrem teuer", sagt Riedl. Die Erforschung der Krankheiten und passender Wirkstoffe wie auch die Entwicklung von Medikamenten sei kostspielig und zeitintensiv – "und für die Pharmaindustrie daher nur bedingt attraktiv".
Nachhaltige Maßnahmen
Rainer Riedl wünscht sich für Betroffene vor allem eine raschere Diagnose, "etwa durch Diagnoselotsen an Universitätskliniken, die Patienten (oder deren Eltern) an die Hand nehmen, bis eine korrekte Diagnose vorliegt". Expertisezentren für seltene Erkrankungen müssten nachhaltig finanziert werden, um die medizinische Versorgung sicherzustellen. "Ein großer Wunsch an die Politik ist die Erstattung von Therapien fair und österreichweit einheitlich zu regeln", sagt Riedl.
Kamiyah leidet nach wie an Lähmungsanfällen. Im Labor werden unter Merediths Leitung aber bereits Versuche an Mäusen durchgeführt, um die Genmutation und ihre Auswirkungen besser zu verstehen. Ein privates Biotechnologie-Unternehmen hat der Familie kostenlose Hilfe angeboten.
Noch gibt es für Kamiyah also keine Heilung. Doch es gibt Hoffnung.
In der Medizin sind rund 30.000 Erkrankungen offiziell anerkannt, davon gelten 6.000 bis 8.000 als selten.
Letztere sind durch ihre Häufigkeit definiert: Sind nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen, gilt eine Krankheit als selten. 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind angeboren und treten von Geburt an auf.
Einen guten Überblick über seltene Erkrankungen gibt Orphanet, eine international anerkannte, mehrsprachige Referenzquelle. Ziel ist, durch Information die Diagnose, Betreuung und Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern.
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