Seltene Krankheiten: Es fehlt an Fachzentren
Seltene Erkrankungen – auch als „rare diseases“ oder „orphan diseases“ bezeichnet – werden immer häufiger. Was wie ein Widerspruch klingt, hat mit den laufenden Fortschritten in der Diagnostik zu tun: So sorgen nicht zuletzt moderne Methoden der Genanalyse dafür, dass immer mehr Fälle von Krankheiten, die jeweils nur wenige Menschen betreffen, identifiziert werden können. Auf die zahlreichen seltenen Erkrankungen im Bereich der Neurologie, auf Fortschritte in der Diagnostik und Therapie und auf die Bedeutung internationaler Netzwerke für die Forschung und eine optimierte Betreuung Betroffener weist jetzt die Österreichische Gesellschaft für Neurologie aus Anlass des Internationalen Tages der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar in einer Aussendung hin.
„Neurologinnen und Neurologen sind traditionell eine wichtige Gruppe auf dem Feld seltener Erkrankungen, wir tragen bereits jetzt viel zur Versorgung von Patientinnen und Patienten bei. Die intensive Auseinandersetzung mit Symptomen und Syndromen und deren detektivische Zuordnung zu Erkrankungen ist seit jeher eine der Kernkompetenzen der Neurologie“, betont Prim. Univ.-Prof. Dr. Jörg Weber, Vorstand der Abteilung für Neurologie am Klinikum Klagenfurt. „Viele der seltenen Erkrankungen betreffen das Gehirn oder das Zentrale Nervensystem, ob es nun für sich stehende Krankheitsbilder sind oder seltene Unterformen in weit verbreiteten Indikationen wie Schlaganfall oder Epilepsie.“ Einige davon, wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) mit einer Häufigkeit von 5,2 pro 100.000 Menschen oder die Kreutzfeldt-Jakob-Erkrankung mit nur zwei pro 1.000.000 fallen typischerweise in diese Gruppe – auch wenn sie durch die aktive Aufklärungsarbeit der letzten Jahre so viel Aufmerksamkeit erhielten, dass sie gar nicht so sehr als „orphan diseases“ wahrgenommen werden.
Großer medizinischer Fortschritt
Weber: „Einzelne dieser seltenen Krankheiten sind heute zumindest teilweise behandelbar geworden. Das ist ein großer medizinischer Fortschritt.“ Die verbesserten Möglichkeiten der Gen-Diagnostik führten etwa dazu, dass einige seltene Epilepsie-Formen exakt diagnostizierbar wurden und in der Folge auch wirksame Therapien entwickelt werden konnten. Ähnliche Behandlungserfolge gibt es auch bei der spinalen Muskelatrophie, bei der es durch den fortschreitenden Untergang von motorischen Nervenzellen zu Muskelschwund und Lähmungserscheinungen kommt, oder der Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe, die unbehandelt zu einer lebensbedrohlichen Muskelschwäche führt.
Insgesamt können diese Erfolge aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei vielen anderen seltenen Erkrankungen noch Handlungsbedarf besteht. „Oft handelt es sich bei den ‚orphan diseases‘ um chronisch progrediente degenerative Erkrankungen, die die Lebenserwartung zum Teil deutlich verkürzen und typischerweise einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten haben“, so Prof. Weber.
6000 Krankheiten identifiziert
In der EU werden als „rare diseases“ Erkrankungen definiert, die nicht mehr als fünf von 10.000 Bewohnern betreffen. Bislang sind weltweit zumindest 6.000 solcher Krankheiten identifiziert, die sich oft noch in diverse Unterkategorien aufgliedern. Orphanet, eine von 40 Partnerländern getragene und von der Europäischen Kommission unterstützte Plattform, vermutet knapp 20.000 seltene Krankheiten. In etwa drei Viertel der Fälle sind Kinder betroffen.
An einer seltenen Erkrankung zu leiden bedeutet für Betroffene oft eine Odyssee, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird. „Oft gibt es zunächst nur unspezifische Symptome, was zu falschen Diagnosen und erheblichen Verzögerung eines Therapiebeginns führen kann“, weiß Prof. Weber. „Das ist für Betroffene sehr belastend.“
Eines der Probleme mit den „orphan diseases“ – also den „Waisenkindern“ der Medizin: „Aufgrund der geringen Fallzahlen bestehen häufig keine ökonomischen oder wissenschaftlichen Anreize für die Entwicklung von Therapien“, so Prof. Weber.
Viele neurologische Abteilungen in Österreich haben für einzelne Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen bereits jetzt Angebote, so zum Beispiel Muskelambulanzen mit erheblichem Spezialwissen. Um angesichts geringer Fallzahlen das Know-how optimal zu bündeln, plädieren Experten für eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Vernetzung des bestehenden Expertenwissens als einen wichtigen Baustein zur Bildung von Zentren für seltene Erkrankungen, die auch grenzüberschreitend vernetzt sind. „Wir haben in Österreich, aber auch europaweit, viele hervorragende Initiativen, die auch zunehmend in Netzwerken zusammenarbeiten. Dieser Weg sollte konsequent weiter gegangen werden, und es wäre wünschenswert, dass sich auch in Österreich Exzellenzzentren etablieren“, so Prof. Weber.
Bereits 2009 hat die Europäische Union die Errichtung von Fachzentren und Referenznetzwerken empfohlen, und fördert deren Errichtung auch finanziell. Die vom Gesundheitsministerium eingerichtete Nationale Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (NKSE) soll möglichst vielen österreichischen Einrichtungen für seltene Erkrankungen einen Anschluss an die auf europäischer Ebene eingerichteten Europäischen Referenznetzwerke ermöglichen. Dies erfolgt im Rahmen eines sogenannten „Designationsprozesses“. „Damit hier mehr österreichische Zentren einbezogen werden können, wären mehr Ressourcen für die NKSE wünschenswert“, so Prof. Weber. „Darüber hinaus konzentriert sich der österreichische Aktionsplan zu diesem Thema stark auf die Patientenversorgung, wir sollten aber auch die Forschung forcieren, zu der österreichische Teams viel beizutragen haben.“
Oft zu wenig Patienten für klinische Studien
Auch die Pharmig, der Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs, tritt für die weitere Expertisezentren ein. Dies ist auch ein Kernpunkt des Nationalen Aktionsplans für seltene Krankheiten. Und sie verweist auf ein weiteres Problem: Die größte Herausforderung in der Erforschung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen liege darin, ausreichend Patienten für die klinischen Studien zu finden. Länderübergreifende Studien seien hier die Regel und können über Netzwerke deutlich besser abgewickelt werden: "Würde Österreich hier stärker repräsentiert sein, hätte das auch entsprechende Impulse für Österreich als Forschungsstandort", sagt Martin Munte, Präsident der Pharmig. Auch hier seien die Expertisezentren von großer Bedeutung: "Sie tragen nicht nur dazu bei, Expertise zu bündeln und damit die Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen zu verbessern, sondern sie öffnen auch die Tür nach Europa."
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