Nervenkrankheit: "Multiple Sklerose nicht mehr verstecken"

Prominente Botschafter zeigen, was niemand sieht: Die chronische Entzündung verläuft meist unsichtbar.

Den emotionalsten Moment der vergangenen Oscar-Nacht lieferte eine, die gar nicht nominiert war. Bei der glamourösen Aftershowparty erschien die Schauspielerin Selma Blair („Eiskalte Engel“) mit einem besonderen Accessoire auf dem roten Teppich: Mit der linken Hand hielt sie die Schleppe ihres flatternden Couturekleids hoch, mit der rechten stützte sie sich auf einen Gehstock, versehen mit ihrem Monogramm und einem pinken Diamanten.

Es war ihr erster Auftritt, seitdem sie im Oktober ihre MS-Erkrankung öffentlich gemacht hatte: „Ich stürze manchmal. Ich lasse Dinge fallen. Meine Erinnerung ist vernebelt. Und meine linke Seite fragt nach Anweisungen eines kaputten Navigationssystems“, schrieb Blair damals auf ihrer Instagram-Seite. Anfang Mai zeigte sich die 46-Jährige erneut mit Gehstock auf einer Hollywood-Gala (siehe unten). Ihre Botschaft ist klar: Seht her, meine Krankheit gehört zu mir, ich verstecke sie nicht.

Nervenkrankheit: "Multiple Sklerose nicht mehr verstecken"

Selma Blair mit Sohn Arthur

Ein mutiger Schritt im perfektionsverliebten Los Angeles, der ganz dem Motto des heutigen Welt-MS-Tages entspricht: Die Hashtags #MyInvisibleMS und #sichtbarwerden sollen die unsichtbaren Symptome der chronischen Entzündungskrankheit vor den Vorhang holen – Taubheitsgefühle in den Gliedmaßen, Seh- und Gangstörungen, Depressionen, Muskelsteife oder Blasen- und Darmprobleme.

Die Liste der möglichen Beschwerden ist lang und bei jedem Patienten individuell, betont Kerstin Huber-Eibl von der Multiple Sklerose Gesellschaft Wien. Das häufigste unsichtbare Symptom ist Fatigue, ein extremer Erschöpfungszustand. „Früher hatte man bei Multipler Sklerose sofort den Rollstuhl im Kopf. Die meisten Patienten sitzen aber nicht im Rollstuhl, sondern haben Symptome, die man nicht sehen kann“, erläutert Huber-Eibl. Ein Problem, denn: „Dadurch wird ihnen oft nicht geglaubt.“

So werde etwa der schwankende Gang vieler MS-Patienten häufig auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückgeführt – schuld sind aber die durch ein fehlgeleitetes Immunsystem entstandenen Schädigungen des Nervengewebes, die meist eine einseitige Taubheit verursachen.

Ungeschönte Einblicke

Seit Weltstars wie Selma Blair, Politiker-Gattin Ann Romney oder Ozzy-Sohn Jack Osbourne ihre Diagnose publik machten, spricht man offener über die Autoimmunerkrankung, freut sich Huber-Eibl. „Wenn sich eine Selma Blair mit Gehstock zeigt, trägt das dazu bei, dass sich die Leute mit der Krankheit identifizieren. MS wird zunehmend salonfähiger.“

Daran sind auch die sozialen Medien wesentlich beteiligt. Blair teilt mit ihren 1,5 Millionen Abonnenten auf Instagram nicht nur Glamour-Momente, sondern auch persönliche Tiefpunkte, die mit ihrer Krankheit einhergehen. Neben den Gefühlsstörungen hat die Mutter eines Sohnes mittlerweile Probleme zu sprechen, auch die Nebenwirkung der Medikation machen ihr zu schaffen: „Hier ist die Wahrheit“, schrieb sie Anfang Mai unter ein Foto, das sie sichtlich erschöpft in eine Decke gekuschelt zeigt, „mir geht es extrem schlecht. Ich muss mich übergeben und all die anderen Dinge, über die man nicht spricht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich jemals wieder gut fühle.“

In den Kommentaren wurde sie mit mitfühlenden Worten überhäuft, viele Mit-Betroffene bedankten sich für so viel Ehrlichkeit.

Auch Blogs helfen, die unheilbare Krankheit sichtbarer zu machen. „Frauenpower mit MS“ heißt der bekannteste im deutschen Sprachraum, die zweifache Mutter Caroline Régnard-Mayer berichtet darin humorvoll von ihrem Alltag mit Multipler Sklerose, gibt Ernährungstipps und informiert über unsichtbare Symptome. Auch in der Facebook-Gruppe der Multiple Sklerose Gesellschaft Wien herrscht ein reger Austausch. Huber-Eibl zitiert eine junge MS-Patientin: „Durch die sozialen Medien ist niemand mehr allein.“

Hintergrund zu Multiple Sklerose

Die meisten Symptome sind unsichtbar und treten in den unterschiedlichsten Kombinationen auf, was MS den Beinamen „Krankheit der 1.000 Gesichter“ einbrachte. Weltweit leben etwa 2,5 Millionen Menschen mit MS, davon 13.500 in Österreich. Am häufigsten wird die entzündliche Nervenkrankheit zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr diagnostiziert, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Der Welt-MS-Tag findet jährlich am 30. Mai statt. Infos im Netz: www.msges.at, www.facebook.com/MSGesellschaftWien/

Therapien werden besser

Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark). Dabei greifen körpereigene Abwehrzellen die Fortsätze der Nervenzellen an. Die Ursache ist nicht eindeutig geklärt: Genetische Faktoren spielen eine Rolle (MS ist aber keine Erbkrankheit), ebenso gibt es Hinweise, dass bestimmte Infektionen (z. B. mit dem Epstein Barr Virus) beteiligt sein können.

„Bei etwa 85 bis 90 Prozent der Betroffenen beginnt die Krankheit mit einem schubförmigen Verlauf“, sagt der Salzburger Neurologe Eugen Trinka, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN). „Speziell bei frühen und schubförmigen Krankheitsverläufen kann heute eine wirksame Kontrolle der Krankheitsaktivität erreicht werden.“

Obwohl MS derzeit nicht geheilt werden kann, wurden in der Therapie in den vergangenen Jahren viele Erfolge erzielt. Eine wirksame Behandlung in den ersten Krankheitsphasen könne die gefürchtete Invalidität verhindern, betont  der Wiener Neurologe Thomas Berger,  Koordinator für MS in der ÖGN. „Und sie  ist außerdem gesundheits- und gesamtökonomisch sinnvoll, weil Folgekosten der Krankheit vermieden oder verringert werden können.“ Doch weitere Therapieerfolge könnten gefährdet sein.

„Wir stehen insgesamt vor dem Problem, dass es in Österreich Anzeichen gibt, dass künftig manche innovativen Medikamente zwar zugelassen sein werden, aber nicht kostenerstattet werden“, sagt Berger. Die Kassen würden die Kosten dann nur in Einzelfällen übernehmen.

Das bedeute nicht nur, dass MS-Betroffene von der Möglichkeit neuer Therapien ausgeschlossen werden. Österreich werde auch  als Forschungsstandort international zunehmend ins Hintertreffen gerate – etwa, weil heimische MS-Zentren nicht mehr zu internationalen Studien eingeladen würden. 

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