Bio oder künstlich? Das Essen der Zukunft

Eine angebratene Heuschrecke verspeist Christina am Donnerstag (03.08.2000) auf der Expo in Hannover. Im Themenpark "Ernährung" werden die Insekten zu Demonstrationszwecken zubereitet und an Besucher verteilt. Auf der regulären Speisekarte der Expo-Restaurants werden sich die sprungfreudigen Tiere vorerst jedoch nicht finden: Nach Auskunft eines Expo-Kochs sind Heuschrecken in Deutschland lebensmittelrechtlich nicht zugelassen. dpa/lni (Digitale Fotografie)
Um im Jahr 2050 die Ernährung für neun Milliarden Menschen zu sichern, müsste sich die Nahrungsmittelproduktion fast verdoppeln. Experten über Essen zwischen Bedürfnis und Lust.

Rob Rhinehart hat den Trend zur Kunstnahrung aus dem Labor auf die Spitze getrieben. Der 24-jährige Software-Entwickler aus Atlanta (USA) hat das Essen eingestellt. Sein Ersatz: ein trüber, geruchloser, beiger Cocktail. Feste Mahlzeiten nimmt er nur noch zwei Mal pro Woche zu sich. Rhinehart informierte sich über die Chemie des Stoffwechsels und kam zum Schluss, dass der Körper keine Lebensmittel, sondern Nährstoffe braucht. Er verwandelte seine Küche in ein Labor, mischte Nährstoffe zusammen und testete den Cocktail aus Vitaminen, Mineralstoffen, essenziellen Aminosäuren, Kohlenhydraten und Fett dreißig Tage lang. Diese Zeit, sagt er, habe sein Leben verändert. Er fühlte sich leistungsfähig.

Einst mussten Nahrungsmittel satt machen und schmecken, viele kamen vom Feld. Heute wird Essen zur Ideologie – zwischen Grundbedürfnis für eine wachsende Weltbevölkerung und Ego-Statement einer individualisierten Gesellschaft. Das neue Essen soll gesund, schön und glücklich machen und auch noch die Welt retten. Wie jener Kunstfleisch-Burger, den Forscher kürzlich präsentierten. Gehört dem Essen aus dem Labor die Zukunft? Oder werden die Menschen sich wieder wie ihre Großeltern ernähren? Das sind die Ess-Trends für die kommenden Generationen:

Ein großes Problem in der Lebensmittelindustrie ist der enorme Kostendruck. "Irgendwann ist die Grenze erreicht, dass man noch billiger produziert. Deshalb wird es in Zukunft noch häufiger ,Mogel-Lebensmittel‘ geben, wie etwa Analogkäse", prophezeit Stefano d’Amico, Lebensmitteltechnologe an der BOKU Wien.

Milch und Eier aus dem Labor

Matthias Wolfschmidt von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch zweifelt am Essen aus dem Labor als Hoffnungsträger: "Mit Technologie kann man das derzeit größte Problem, den Hunger, nicht lösen. Wer dieses Ziel erreichen möchte, muss die Korruption abschaffen, für sauberes Wasser und für eine gute Verteilung der Lebensmittel sorgen. Aber für Politiker ist es natürlich einfacher, auf Technologie als Lösung zu verweisen."

Ob eines Tages Rohstoffe wie Fleisch oder auch Milch und Eier aus dem Labor kommen, ist eine wirtschaftliche Frage. "Wenn Nahrung im großen Stil auf diese Weise kostengünstig hergestellt werden kann, wird es auch gemacht. Die Frage wird dann sein, ob das auch gekennzeichnet wird." Wolfschmidts pessimistische Prognose: "Eher nicht."

Die Industrie suche nicht nur billige, sondern auch standardisierte Lebensmittel. "Also zum Beispiel Mehl, das immer den gleichen Kleberanteil hat. Denn dieser hat Auswirkungen auf die Qualität eines Gebäcks", sagt Wolfschmidt. Getreide aus dem Labor ist natürlich leichter standardisiert herzustellen als die Pflanze vom Acker.

"Rein in die Mikrowelle und fertig." Für Stefano d’Amico "werden Tiefkühlprodukte immer häufiger in den Einkaufswagerln landen. Diese Gerichte haben dann zwangsläufig ziemlich viele Zusatzstoffe."

D’Amico registriert ein übertriebenes Labeling. Selbst Produkte, die von Natur aus z.B. keine Gluten enthalten, werden eigens als glutenfrei etikettiert.

Die Angst vor Übergewicht und Mangelernährung lässt Verbraucher vermehrt zu gesunden Lebensmitteln greifen: "Zu fettreduziertem Käse oder zu vitaminangereicherten Flakes", sagt d’Amico. Doch bringt das was? "Schwierig zu sagen. Wer sich ausgewogen ernährt, braucht das nicht."

Mangelndes Wissen

Zudem hinkt die Wissenschaft der Natur hinterher. Bis zu 40.000 Substanzen sind in Pflanzen enthalten. Kocht man Gemüse, gehen die meisten nicht verloren, sondern reagieren mit anderen Stoffen, von denen manche im Darm aufgenommen und in der Leber umgewandelt werden. Schützen die Stoffe im Brokkoli tatsächlich vor Krebs, wie häufig zu lesen ist? Kein Forscher vermag das im Moment – ob der Komplexität – zu sagen.

Wenn die Experten schon über Brokkoli nicht wirklich Bescheid wissen, woran darf der Konsument überhaupt glauben? An Anti-Aging-Tomaten oder Golden Rice? Letzterer ist die erste marktreife gentechnisch veränderte Pflanze. Ein eingeschleustes Gen von Maispflanzen sorgt dafür, dass der gelbe Reis mehr Betacarotin, die Vorstufe von Vitamin A, enthält. Er könnte den Vitamin-A-Mangel in armen Ländern lindern, so die Hoffnung.

Und das ist erst der Anfang. Die Lebensmitteltechniker entwickeln in ihren Labors schon eine Reihe weiterer super gesunder Feldfrüchte. Mehr Vitamine und Mineralstoffe, mehr Proteine, gesündere Fette – alles scheint möglich. Für alle, die das nicht möchten, gibt es gute Ratschläge: Meiden Sie Lebensmittel, die a) Ihnen unbekannte, b) unaussprechliche, c) mehr als fünf Zutaten oder d) fructosereichen Maissirup enthalten.

Die Gegenbewegungen

Keine hochgezüchteten Pflanzen und Tiere kommen Slow-Food-Anhängern in den Topf. Auch Fertigprodukte lehnen sie ab. Regional, saisonal und natürlich heißt ihr Slogan. Aber was ist schon natürlich? Für Matthias Wolfschmidt von Foodwatch hängt die Antwort davon ab, was kulturhistorisch akzeptiert ist. "Für uns ist es kaum vorstellbar, Insekten zu essen (siehe Bericht unten, Anm.) Manches, was unsere Großeltern gegessen haben, ist für uns eklig, etwa Bruckfleisch – ein Eintopf aus Milz, Zwerchfell, Leber und Herz." Natürlichkeit sei auch eine Frage des technologischen Standards. "Vieles, was wir essen, ist hochgradig verarbeitet. Selbst Biologisches wird tiefgekühlt, erhitzt, begast. Das ist nicht grundsätzlich negativ – im Gegenteil. So war es ein Fortschritt, dass Milch nur über Molkereien verkauft werden durfte. Zuvor wurde sie oft gestreckt, unhygienisch gelagert etc."

Für Ernährungsexpertin Hanni Rützler kann hingegen auch Massenware natürlich sein: "Nur der Stammzellen-Burger kommt aus dem Labor. Im Gegensatz dazu entsteht die Tiefkühl-Pizza in riesigen Produktionshallen. Da geht es darum, schnell und billig zu produzieren. Auch hier gibt es Hersteller, die Wert darauf legen, wie und mit welchen Zutaten die Pizza gemacht wird."

Wer klimaschonend essen will, darf kein Essen in den Mistkübel hauen. Andrea Ficala, Ernährungswissenschaftlerin, sieht darin eines der großen Themen der Zukunft. Bei ihren Vorträgen stellt sie eine zunehmende Verunsicherung fest: "Vielen Menschen fehlt der Bezug zum Lebensmittel. Ihnen geht da das Sensorium verloren. Sie werfen z. B. Tomaten nach zwei Wochen weg, obwohl sie noch gut sind, weil ihnen die lange Frische unheimlich ist. Dabei handelt es sich oft um besonders lang haltende Sorten. Sie verlassen sich auch lieber auf das Mindesthaltbarkeitsdatum, das auf dem Milchpackerl gedruckt ist, als auf ihre Nase."

Bewusster Umgang mit Essen fängt schon beim Einkauf an. Das Berliner "Kochhaus" hat dazu ein eigenes Konzept entwickelt: Die Produkte sind nicht nach Warengruppen, sondern nach Rezepten geordnet. So ist garantiert, dass nur das Nötige ins Wagerl kommt. In den Supermärkten hat ebenfalls ein Umdenken eingesetzt. Kurz vor Ladenschluss wird Brot – das am häufigsten weggeworfene Lebensmittel – billiger verkauft. Und die Auswahl ist am Abend geringer.

Fleisch als Luxusgut

"Fleisch wird ein Luxusgut, auch weil die Nachfrage weltweit steigt – vor allem in Asien. Wir werden in Zukunft wohl weniger Fleisch essen", vermutet Ficala. Schon jetzt verzichten immer mehr Europäer zumindest tageweise auf Fleisch. Und wenn doch ein Schnitzel auf den Teller kommt, muss es ein qualitativ hochwertiges sein. Wer häufig vegetarisch isst, ist ein Flexitarier.

Laut Statistik Austria gibt bereits knapp die Hälfte der Österreicher an, darauf zu achten, nur wenig Fleisch zu essen. Die Motive sind unterschiedlich: Die einen wollen keine Tiere verzehren, die in Massentierhaltung gezüchtet wurden. Andere wollen mit dem häufigen oder sogar dauerhaften Verzicht auf Fleisch die Umwelt schützen. Und eine dritte Gruppe tut es aus rein gesundheitlichen Motiven.

Bio oder künstlich? Das Essen der Zukunft
Bio oder künstlich? Das Essen der Zukunft
grimm
Jahrelange Recherchen in der Welt der industrialisierten Nahrungsmittel haben Hans-Ulrich Grimm dazu bewegt, sämtliche Erzeugnisse aus den Supermarktregalen aus seiner Küche zu verbannen. In seinem neuen Buch „Chemie im Essen“ serviert der Autor seine These: „Die Nahrungsindustrie braucht Chemie. Der Mensch nicht. Ihn macht sie krank.“

Der Journalist schreibt nicht nur Bücher. Er ist auch Geschäftsführer des Unternehmens „Dr. Watson – der Food Detektiv“, das einen Internetdienst betreibt.

KURIER: Ernähren wir uns nicht längst künstlich?

Hans-Ulrich Grimm: Es gibt zwei Parallelwelten: Zum einen sind da die echten Nahrungsmittel – Äpfel, Karotten, Broccoli und Hühner vom Wochenmarkt. Davon ernähre ich mich. Dann gibt es die industrielle Parallelwelt – Kartoffelpüree im Packerl oder sogenanntes Fruchtjoghurt. Und diese beiden Welten haben nichts miteinander zu tun.

In Ihrem Buch „Chemie im Essen“ beschäftigen Sie sich mit Zusätzen in unserer Nahrung, die krank machen.

Es regt mich auf, dass wir mit Aromen, Geschmacksverstärkern und Glutamat an der Nase herumgeführt werden. Anfangs fand ich es als Feinschmecker einfach nur empörend, dass da irgendwelche Chemikalien eingesetzt werden, die mir Erdbeeraroma aus Sägespänen vorgaukeln.

Sie beschäftigen sich schon lange mit Lebensmitteln. Was empört Sie aktuell besonders?

Mittlerweile weiß ich, dass uns der liebe Gott den Geschmack nicht gegeben hat, damit wir ein schöneres Leben haben, sondern, dass es sich um einen Kontrollsinn handelt. Der Geschmackssinn informiert uns über die Beschaffenheit der Nahrung. Wenn Sie also Erdbeere schmecken, weiß der Körper, dass da zum Beispiel Kalium drinnen ist. Der Mensch besteht aus zwei Millionen verschiedenen Substanzen und muss seine Zellen innerhalb von sieben Jahren komplett erneuern. Jeder Körper besteht also aus dem, was er in den vergangenen sieben Jahren gegessen hat. Leider weiß man nicht, welche der zwei Millionen Substanzen man gerade benötigt. Das weiß nur der Körper selbst. Die Nachschub-Beschaffung funktioniert über die Lust auf etwas, Erdbeeren etwa. Bekommt der Körper dann aber stattdessen Joghurt mit Erdbeeraroma aus Sägespänen, wird er betrogen. www.food-detektiv.deInformationen zu Ernährungsthemen und Zusatzstoffen hat Grimm zusammengetragen.

Die Industrialisierung brachte nicht nur die Lokomotive und die Kleidung von der Stange. Auch Lebensmittel wurden in Fabriken hergestellt. Angefangen hat alles mit der Margarine. Im 19. Jahrhundert war sie eines der ersten synthetischen Nahrungsmittel, ein billiger und minderwertiger Ersatz für Butter. In den 1950er-Jahren wurde Margarine durch etwas Basteln aufgewertet: schlechte Cholesterine raus und gute Vitamine rein.

1886 lancierte Julius Maggi seine Suppenwürze und die erste Fertigsuppe – Laborprodukte, die zum Symbol für moderne Ernährung wurden.

Obersersatzprodukte wie Sauce Hollandaise im Packerl (hauptsächlich Verdickungsmittel, Emulgatoren und Aromastoffe), Formschinken (zusammengesetzt aus Fleischstücken und schnittfestem Stärke-Gel) gehören zum Standardrepertoir jeder Fertiggerichtküche. Selbst wenn es bei Vanillin „natürliches Aroma“ heißt, bedeutet das nicht, dass dafür Vanilleschoten ausgekratzt worden sind. Denn nur der Grundstoff muss aus der Natur stammen. Heißt: Vanillearoma wird aus Holzabfällen der Papierindustrie gewonnen. Und wenn „Fruchtjoghurt“ nach Pfirsich schmeckt, ist eine Schimmelpilzkultur schuld.

Neu auf der Karte. Heuschrecken, Würmer, Ameisen – nicht gerade das, was bei Durchschnittseuropäern regelmäßig auf der Einkaufsliste steht. Geht es nach der UNO-Welternährungsorganisation (FAO), soll sich das bald ändern. Der für die FAO tätige Insektenforscher Arnold van Huis fordert mehr Insekten auf dem Speiseplan der westlichen Industrienationen, wie es in weiten Teilen Afrikas, Südostasiens und Lateinamerikas schon lange der Fall ist. Grundlegender Gedanke des provokanten Vorstoßes: Angesichts der rasant wachsenden Weltbevölkerung müssen künftig mehr – und vor allem ressourcen­freundlichere – Alternativen zu Fleisch angeboten werden. Den Ekelfaktor lässt van Huis nicht gelten: "Der Großteil der Weltbevölkerung isst bereits regelmäßig Insekten. Ausnahme ist der Westen, der ein rein psychologisches Problem damit hat." Dabei gebe es weder ernährungs- noch geschmackstechnisch einen driftigen Grund, die fettarmen und proteinhaltigen Tierchen nicht zu essen. "Richtig gekocht schmecken sie sogar richtig delikat", schwärmt der Experte. Das wirtschaftliche Potenzial von Maden & Co meint Urs Fanger, Geschäftsführer der Schweizer Insektenzucht Entomos, erkannt zu haben. Bis jetzt beliefert die Firma mit Sitz in Luzern Zoos und Tierhandlungen mit Lebendprodukten, in Zukunft sollen auch Restaurants und Privatpersonen als Abnehmer folgen. Momentan sind die bürokratischen Hürden aber noch zu hoch – vorerst macht der Käfer dem Kotelett noch keine Konkurrenz.

Kein Wort wird unterschiedlicher empfunden als „Nahrung“. In Afrikas Dürrezonen schwingt dabei die todbringende Unterversorgung mit, der schale Geschmack eines Problems. Auf Bauernmärkten hingegen die grüne Wiese, das Gesunde. „Nahrung“ kann „satt machen“ oder vier Hauben haben, im Vorbeigehen oder im Freundeskreis eingenommen werden.

Wenn wir Wohlgenährten den Welt-Hunger diskutieren, wirkt das zwangsläufig von oben herab. Insekten oder einheitliches Mehl könnten alle sättigen – alle außer uns, weil wir essen Bio. Aber die Unterernährten werden dankbar sein, wenn wir ihnen im Labor eine Lösung gegen den Mangel basteln. Der Schönheitsfehler: Wir selbst sind an dem Problem schuld. Mit den täglich produzierten Lebensmitteln wäre nämlich die gesamte Weltbevölkerung zwei Mal ernährbar, sagt die UNO. Theoretisch. Praktisch hungern die anderen, weil wir um fünf vor Ladenschluss noch frisches Brot wollen. Um fünf nach wandert der Überfluss in den Mist. Praktisch will die Industrie nicht den Hunger aller stillen, sondern jenen ihrer Investoren. Praktisch verhungern die Menschen in den Ländern neben den Lebensmitteln, die sie für uns produzieren. Denn wenn Bananen im Supermarkt-Angebot (ein Kilo, Frühjahr 2013) 1,29 € kosten, die gewaschen, sortiert, um die halbe Welt geschippert und hier ins Regal geschlichtet werden: Wie viel verdient der, den beim Pflücken die Spinne beißt? Und wie viele Bananen kann er sich darum kaufen?

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