Ein Wochenende in Usedom: Oh, du schöne Ostsee!
Von Brigitte Jurczyk
Ich kann mich noch jut erinnern“, sagt die Dame mit dem hellbeigen Strohhut über dem silbergrauen Haar und ihr Blick wird melancholisch: „Hier im Kulti haben wir immer jetanzt, und hier habe ich damals auch meinen späteren Mann kennenjelernt.“ Jetzt steht die gebürtige Usedomerin zwischen Kleiderstangen mit neuester Mode, Parfümfläschchen und Handtaschen und wirkt verwundert. „Dat sieht jetzt aber janz anders aus, hier!“
Die ehemalige Tanzfläche hat sich in einem superschicken Concept Store verwandelt. Statt Disco-Teenies wuseln nun adrett gekleidete Verkäuferinnen herum. Und oben in der eingezogenen Galerie thront André Kähler und grinst. Der 29-Jährige ist der jüngste Sternekoch Deutschlands. Hier oben im O’Room und im O’ne bereitet er seinen Gästen eine feine norddeutsche und nordisch inspirierte Aromenwelt zu. Ein buntes und sehr modernes Potpourri ist in das ehemalige Strandcasino des Seebads Heringsdorf gezogen: Feinkost, Weinbar, Mode und Kosmetik sowie zwei Restaurants finden sich jetzt in dem von außen immer noch klassizistisch anmutenden Bau. Den hatten die Russen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anstelle des abgebrannten historischen Strandcasinos von 1897 im Seebad errichten lassen, und zwar als Offizierscasino. Durchaus imposant. Wahrscheinlich ging man damals davon aus, etwas länger in Sichtweite zum Meer zu residieren. Doch schon 1950 übernahm die Gemeinde Heringsdorf das Gebäude und nutzte es als Kulturhaus – von den Einheimischen liebevoll Kulti genannt.
Usedom, die Badewanne Berlins
So manches Paar fand sich in den Räumen beim Tanz und anschließend den Weg zum Traualtar. Wie sich das Strandcasino verändert hat, steht exemplarisch für die ganze Insel Usedom – auch als „Badewanne Berlins“ bekannt. Die deutsche Hauptstadt ist nicht weit entfernt und als es in Mode kam, den Stadtkosmos für eine „Sommerfrische“ zu verlassen, kam Usedom neben Rügen in den Genuss einer erlauchten Gesellschaft: Berühmte Literaten wie Kurt Tucholsky, und Maler wie Lyonel Feininger lieferten sich ein Stelldichein mit Bankern, Adeligen und anderen Wohlbetuchten. Die Bäderarchitektur entstand vor mehr als 100 Jahren, ein besonderer Baustil mit Erkern, Türmchen und allerlei Verzierungen an den schneeweißen Fassaden. Man überbot sich gern an Prunk und Pomp. Schönes Beispiel ist die Strandpromenade von Heringsdorf, eines der drei sogenannten Kaiserbäder.
Ja, der deutsche Kaiser war auch mal hier, aber heute wird der Titel „Kaiserbäder“ eher für Marketingzwecke verwendet. Die Prachtvillen an der Strandpromenade jedenfalls – fürs Flanieren damals zweispurig mit schattenspendenden Bäumen entworfen – sind dagegen echt. „Wir hatten Glück, dass die Wende noch rechtzeitig kam“, sagt Elke Pupke, eine Frau mit gutem Humor und breitem Insiderwissen. „Sonst wären diese Gebäude alle in sich zusammengefallen“, prognostiziert die Stadtführerin, die in ihrem Hauptjob Inselkrimis schreibt. (Gerade ist ihr neunter erschienen!). Die DDR hatte zu wenig Mittel, um die Bausubstanz der Seebäder zu erhalten. So kamen jedes Jahr zwar Massen von inländischen Touristen, aber die schlichten Hotels, die in die noblen Residenzen einzogen, wurden nach Saison-Ende nicht renoviert oder nur notdürftig.
Vom bröckelnden Putz ist nur noch ganz selten etwas zu sehen. Und wenn, dann in zweiter Reihe. Stattdessen präsentiert sich heute alles aufgehübscht und strahlt in der Sonne, die auf der Insel so oft scheint, wie sonst nirgendwo in Deutschland.
Strandkörbe mit Chichi
Es ist viel Kreativkraft auf dem Eiland zusammengeflossen, das zum größten Teil zu Deutschland gehört – der östlichste Zipfel trägt schon die polnische Flagge. Leute wie die gebürtige Usedomerin Jana Griehl, die zusammen mit ihrem Mann den ersten Marco Polo Concept Store nach Usedom holte und mit ihm das Strandcasino neu aufleben lässt. Oder Dirk Mund, der das Korbwerk übernahm – die älteste Strandkorbflechterei Deutschlands. Heute baut sein Team in der Riesenwerkstatt am Bahnhof von Heringsdorf Designermodelle mit integrierter Sitzheizung, Sektkübelhalterung und allem Chichi, wenn hier nicht gerade Superlative wie der größte Strandkorb der Welt für mehr als 90 Personen entstehen. Auch Tom Wickboldt hat sich für die Moderne und den Blick nach vorn entschieden. Der ausgezeichnete Koch und gebürtige Rostocker, er holte vor Jahren den ersten Michelin-Stern auf die Insel, hat das alte Kulmeck in Besitz genommen und frisch und cosy in modernem Design eingerichtet. Zur Musik der 1970er- und 80er-Jahre serviert er ein anspruchsvolles Menü mit feinen Überraschungen oder auch mal einen Pulled-Pork-Burger draußen auf der von alten Bäumen bestandenen Terrasse an der Kulmstraße in Heringsdorf. Das sollte man sich keinesfalls entgehen lassen, wenn einem nach einem langen Strandtag der Sinn nach Köstlichkeiten steht.
Heringsdorf, Bansin und Ahlbeck – die drei Kaiserbäder sind die eine Seite von Usedom. Dort wo sich Hotel an Hotel reiht, Restaurant an Café und Seesteg an Seesteg. Und sich ein 40 Kilometer langer Strand voll weichem Sand an die Küste legt, in dem der Fischer Uwe Krüger immer mehr einsinkt. Er ist einer der letzten Strandfischer der Insel; früher gab es hier weit mehr als 200. Seine „Meereswelle“ hat er wie nach jedem Morgen draußen auf See an Land gezogen. „Und wenn ich nicht aufpasse, werfen Touristen mir dann ihren Müll in meinen Kutter“, klagt der 62-Jährige. Ihn plagen aber vor allem die Sorgen um die Fangquote. Bald darf er wohl so gut wie nichts mehr aus der Ostsee herausholen. Und die 300 Seehunde aus der Nordsee, die in der Ostsee auftauchten, fressen ihm jetzt schon die Fische weg. Noch aber hat er genügend Heringe, Flundern, Dorsche und Aale in seinen Netzen. In seiner „Fischerhütte“ direkt am Strand in Ahlbeck bekommen die Touristen sie in köstliche Brötchen gepackt.
Auf der dem Festland zugewandten Seite der Insel liegt das Achternwasser – eine Lagune des in die Ostsee mündenden Peenestroms. Still ist es hier; in den Naturhäfen schaukeln leise die Segelboote in den Wellen. Hier und da zieht ein Surfer am schilfbestandenen Ufer entlang. Uralte Kirchen finden sich in diesem ländlich geprägten Teil von Usedom. Sie liegen an mit Kopfstein gepflasterten Wegen in Dörfern voller Fischerhäuser, die mit Reet gedeckt sind. Sonnenblumen säumen die weiten Felder. Und Künstler wie die Malerin Sabine Curio finden hier ihre Motive – eine Schülerin von Otto Niemeyer-Holstein, an den sein Wohnhaus, Atelier und eine neu errichtete Galerie in der Nähe von Koserow erinnern – ein zauberhafter Kunstkosmos eines Kieler Kreativen, der 1933 auf der Flucht vor den Nazis seine Zelte auf der Insel aufschlug. Eine neue Heimat fand auch Jan Fidora aus Ostwestfalen auf Usedom und dazu gleich das Wasserschloss Mellenthin. Das Wort Mellenthin stammt aus dem Slawischen und bedeutet soviel wie Mittelpunkt. Und tatsächlich liegt die Schlossanlage aus dem Jahre 1575 in der Mitte der Ostseeinsel. Aber aus der einst geplanten einfachen Gaststube, die der Gastronom hier aufsperren wollte, ist nun eine Brauerei, eine Kaffeerösterei, ein Café, ein Restaurant und ein Hotel geworden. Ziemlich viel los hier in der Hauptsaison, aber die Qualität stimmt und der sympathische Westdeutsche hat in historischem Gemäuer einen charmanten Stilmix aus Renaissanceelementen, Industriekultur und Moderne hinbekommen. Ganz überraschend und für Einheimische kaum wiederzuerkennen.
Und auch hier hört man dann manchmal, wie der eine dem anderen mit gedämpfter Stimme zuraunt: „Dat sieht jetzt aber janz anders aus, hier!“
… das Buch „Lieblingsplätze Usedom“ ein: Eine einzige Liebeserklärung von Claudia Pautz an ihre Heimatinsel mit wertvollen Tipps für Ausflugsziele und kulinarische Entdeckungen (Gmeiner Verlag, 17 Euro).
… eine Regenjacke mit Kapuze. Denn auf Deutschlands sonnenreichster Insel kann es manchmal auch wie aus Kübeln schütten.
... einen kleinen Beutel, um beim Strandspaziergang die gesammelten Muscheln und Bernsteine zu verstauen.
Kommentare