Semmering: Der Balkon von Wien in der Nostalgie-Falle
Nostalgie? Eine schwierige Sache. Es gebe Gebiete, sagt Historiker Wolfgang Kos, die seien „durchliterarisiert“, also ausführlich literarisch besprochen worden. Der Semmering ist natürlich so ein Gebiet. Alle haben sich an ihm abgearbeitet, so gut wie niemand war nicht hier. Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg. Das hat der Region nicht ausschließlich gutgetan. Denn, sagt Kos, dadurch habe sich ein Nostalgiefilm über sie gelegt. Er spricht von einer „Nostalgiefalle“ – derer er ein Kapitel seines neuen Semmering-Buches widmet.
Die Nostalgie wird zur Falle, wenn es um Chancen für die Zukunft geht. Und die braucht der Semmering. Wobei man die Geschichte des Semmerings natürlich nicht ganz nostalgiefrei erzählen kann. Denn Wien um 1900 war eben eine Schlüsselzeit. Zunächst mit Reichenau, und, ab 1880, mit der Hotelkolonie Semmering, die damals zu einer internationalen Topmarke wurde. Die Höhe, die gute Luft und die Nähe zu Wien machten den Semmering in der Monarchie zum vornehmsten Tourismusort überhaupt. Einerseits war er eine Wiener Außenstelle, die „Expositur Hoch-Wien“ hat der Dichter Peter Altenberg sie genannt – „er verwendete gerne derartige Werbeformeln“, sagt Kos. Die Gebietsbezeichnung Semmering wurde rasch zur „Trademark“. Auch aus Reichenau hat man Briefe mit dem Absender „Semmering“ geschrieben. So etwa Sigmund Freud, der im Thalhof in Reichenau an seiner „Traumdeutung“ arbeitete.
Unendlich viele Phasen österreichischer Kultur- und Sozialgeschichte lassen sich hier durchqueren. Das reiche Bürgertum aus Wien, Prag und Budapest hatte am Semmering Villen, die es heute noch gibt. Und dazu kamen die Grandhotels. Obwohl der Semmering ja weniger klassische Sommerfrische war (momentan eine „Leitphrase des österreichischen Tourismus“, sagt Kos dazu): Auf den Semmering kamen viele Künstler auch zum Arbeiten.
In seinem neuen Buch behandelt der Ausstellungsmacher und ehemalige Direktor des Wien Museums nicht die Gemeinde Semmering, sondern das Semmering-Gebiet. „Alles zwischen Rax und Sonnwendstein mit dem Rückgrat der Semmeringbahn, die kurvig durch diese zerklüftete Passlandschaft hinaufklettert.“ Eine exzentrische Landschaft, so der passende Buchtitel. Der Semmering begleitet Kos seit Jahrzehnten. Er sei ein „Lebensabschnittspartner“ geworden. Mit einer ersten Publikation in den frühen 1980ern, zehn Jahre später mit der niederösterreichischen Landesausstellung. „Kulturgeschichte einer künstlichen Landschaft“ nannte Kos sein erstes Buch und stieß mit diesem Titel nicht überall auf Verständnis. „Wir haben doch eine echte Landschaft, keine künstliche“, meinten die Touristiker leicht indigniert. Mittlerweile sei es in der DNA des Wissens um diese Landschaft, dass hier ein Nobelort aus dem Nichts entstanden ist, „in die Wildnis gesetzt“. Erst seit 100 Jahren ist der Semmering eine Gemeinde. „Davor war er eine künstliche Siedlung, in ein unbewohntes Waldgebiet gepflanzt.“
Die Seele im weiten Land
Die Geschichte der Landschaftswahrnehmung spielt dabei eine besondere Rolle. Denn die Landschaft der Bauern und Jäger ist eine andere als jene der städtischen Bürger, die in die Gebirgslandschaft gingen, um hier ihre seelische Verfassung zu spiegeln. Wer sich die zeitgenössischen Gemälde anschaut, sieht die inszenierten Blicke. Bis heute zeichnet sich die Semmering-Landschaft durch ein Überangebot an idealen Blickwinkeln aus. „Der Begriff malerisch stand dafür, dass es wert ist, hier Bilder zu machen.“ Maler wie Friedrich Gauermann hielten lange vor der Fotografie fest, was man heute „Instagram-tauglich“ nennen würde.
Die Eisenbahn hat in dieser Geschichte natürlich einen eigenen Stellenwert. „Die Semmeringbahn hat alles verändert. Mit ihr ist der Semmering prominent geworden.“ Beginnend mit dieser damals einzigartigen Ingenieursleistung entstand hier ein Labor des Fortschritts. Nicht nur deshalb gilt: Der Semmering war nie nostalgisch. Die berühmten Villen etwa waren zum Zeitpunkt ihrer Erbauung Mode-Architektur. Hier tagte die Wiener Moderne, hier traf sich die Jeunesse dorée, hier durften Frauen Ski anschnallen, Bob fahren und dabei erstmals Hosen anziehen. Mit den Nazis kam der Anfang vom Ende der Semmeringregion.
Der Semmering wird heute im Rückblick sehnsüchtig verklärt. Früher am Puls der Zeit, ist er in der Vergangenheit versunken. Wolfgang Kos’ Buch ist eine Erkundung auf Augenhöhe mit dem Heute.
Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft
Eine Region auf der Suche nach Zukunftschancen jenseits der Nostalgie.
Der Kulturhistoriker Wolfgang Kos erzählt die konfliktreiche Geschichte einer exzentrischen Landschaft, die Reichenau und die Rax ebenso umfasst wie die steirische Seite des Gebiets.
Residenzverlag, 34 Euro
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